Das wilde Leben
dann setzt er in völlig verändertem Ton, fast stöhnend, hinzu: »Ach, Swetka, man sollte schon so schnell wie möglich alt werden, damit man diesen ganzen Mist nicht mehr zu sehen braucht.«
Ich verlasse den Raum und gehe. Ich gehe durch die tote Stadt. Ich gehe über die tote Erde. Ich gehe durch ein totes Land.
Wir fahren in demselben Transporter zurück, in dem wir gekommen sind, und derselbe rotwangige kleine Soldat ist unser Chauffeur. Ich sitze direkt hinter ihm. Hinter mir sitzt das Filmteam, alle plaudern fröhlich, stoßen mit Soldatenbechern voller Schnaps an. Ich trinke nichts. Ich bin krank. Ich habe hohes Fieber.
Wir kommen an das Denkmal der Goldenen Horde. Das Filmteam will aussteigen und ein paar Fotos machen, als Andenken. Ich bleibe im Auto. Die herbstliche Steppe ringsum ist von Traktoren aufgepflügt. Um zum Denkmal zu gelangen, muß das Filmteam über die frisch gepflügte Erde gehen, man sinkt tief ein.
Am Denkmal steht ein Bauer und bietet getrocknete Plötzen zum Verkauf.
Die Leute vom Filmteam fotografieren. Der Regisseur kauft Plötze bei dem Bauern. Der Regisseur beschwert sich bei dem Bauern:
»Man kommt ja kaum bis ans Denkmal. … Bringen Sie hier die Wintersaat aus?«
»Wie das denn – Wintersaat in der Steppe?« ruft der Bauer aus.
»Aber warum ist denn sonst alles aufgepflügt?«
»Sie suchen nach dem goldenen Pferd. Der Khan Batyj hat es hier irgendwo vergraben«, antwortet der Bauer dem Regisseur, als sei er etwas verblödet. Weiter erklärt er nichts dazu, alles versteht sich von selbst, als sei es erst gestern geschehen.
Aus dem Russischen von Esther Kinsky
Serhij Zhadan
Seemannspaß
A b Mitte März verzog sich der Winter endgültig, und warme Nebel türmten sich am Ufer auf. Nachts war die Luft dunkel und durchsichtig wie sauber gespülte Flaschen aus grünem Glas, aber gegen Morgen stieg vom Meer Nebel auf und füllte die leeren Piere. Für einige Stunden verschwand ein Teil der Krim unter dichter feuchter Luft. Der Nebel war so schwer, daß man hören konnte, wie er in Tropfen zerfiel. Als erste in der Stadt erwachten die Trinker und Gemüsehändler. Sie krochen aus den Betten, zogen ihre erprobten Männerkleider an – türkische Jeans, zerknitterte Jacketts und ausgelatschte Lederhalbschuhe –, suchten ihre Zigaretten, gingen in die Küche, tranken abgekochtes Wasser aus elektrischen Teekesseln, öffneten die Fenster und ließen den Nebel in ihre vom Schlaf warmen Wohnungen. Die nasse Luft füllte schnell die Zimmer und lagerte sich auf dem müden Kram vierzigjähriger Männer ab – den Lederjacken, Autoersatzteilen und an die Decke gezogenen alten Fahrradreifen, die sich wie Wetterfahnen traurig in der Zugluft drehten. Leere Straßen, nur die Hunde wärmten sich bei den Weinkellern und Bücherbuden und bewachten verstaubte Pullen Portwein und alte Poesie. Gegen sechs rollten die Händler ihre Karren auf die Straße und zogen ihre
Ware zum Markt. Manche blieben auch einfach an einer Kreuzung hängen und breiteten dort ihr Angebot aus. Ihnen folgten Arbeiter, Straßenkehrer und einfach nur zufällige Nutten, die durch die Stadt irrten und versuchten, ihre Wohnungen zu finden, wobei sie Adressen verwechselten, Straßen nicht wiedererkannten, fremde Häuser betraten und unbekannte Schatten grüßten, die schnell in der Dunkelheit verschwanden und deren Schritte auf dem nassen Pflaster verhallten. Aus den Bars mit Spielautomaten wurden die letzten nächtlichen Besucher geschmissen, die sorglos aufstanden, ihre nächtlichen Verluste und ihr nächtliches Verlangen vergaßen und sich in ihre Löcher zurückzogen. Sie kamen heim, weckten Frauen und Kinder, schleppten sich durch den Gemeinschaftsflur, kletterten in Kleiderschränke, legten sich in alten, von Zeit und Liebe vergilbten Badewannen schlafen, zerschlugen Geschirr aus falschem Kristall, schlitzten sich mit stumpfen Rasierklingen die Venen auf, tranken Tee – dicht und süß wie der Nebel von der See her –, lasen Frauenmagazine aus dem letzten Jahr, schalteten das Radio ein und hörten den Wetterbericht, schenkten aber den Vorhersagen von Hochwasser, Erdbeben und baldigem Sommer keinen Glauben. Danach stürmten die Kinder auf die Straße und machten sich auf den Weg zur Schule. Im Nebel ließen sie lange, tiefe Korridore zurück.
Um acht öffneten die ersten Läden. Schläfrige Verkäuferinnen schoben die Riegel zurück, nahmen die Vorhängeschlösser ab und ließen die Straßenhunde in die
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