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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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den Himmel und taucht das Geschehen in ein gespenstisches Licht. Einen Augenblick lang beleuchtet der Blitz Saschas Gesicht, es ist violett wie bei einem Toten, mit riesigen weinenden Augen. Ich springe von meinem Stuhl auf, ihm entgegen, als wollte ich ihm zu Hilfe eilen. Menschen mit solchen Gesichtern enden im Selbstmord. Die Episode ist zu Ende.
    »Später hat er angefangen zu trinken und sich dann aufgehängt«, sagt Schurik, während er die Rolle zurückspult.
    »Wer?« frage ich leer.
    »Ja, wer wohl? Sascha Woronin. Hast du ihn nicht erkannt?«
    »Wann war das?« frage ich mit erstickter Stimme.
    »Ein Jahr wird es wohl her sein.«
    »Das hat mir niemand erzählt.«
    »Was gibt es da zu erzählen? Bei uns in der Stadt macht das jetzt einer nach dem andern.« Schurik zeigt mit unmißverständlicher Geste, was sie machen. »Ich kann Saschka verstehen. Keine Arbeit. Und vor allem – keine Perspektive. Ein Raketenstart pro Jahr, ist das normal? Komm, meine Braut!« sagt er, und ich zucke zusammen. Erinnert er sich wirklich noch?
    »Was? Meinst du, ich hab vergessen, wie du mir deine Kritzeleien geschickt hast, als ich beim Militär war?« fragt Schurik selbstzufrieden. »Sie liegen heute noch irgendwo herum …«
    Der Regisseur hat seinen Film gedreht. Aber ich noch nicht. Wie Boriska, der Glockengießer aus Tarkowskis Film, habe ich den Lehm noch nicht gefunden, der die Glocke zum Klingen bringt. Eine Szene fehlt mir noch.
    »Ich verstehe dich nicht«, sagt der Regisseur. »Wir haben doch soviel Material …«
    »Nein«, sage ich. »Du wirst sehen, ohne diese Szene wird der Film nicht gelingen.«
    Besser sollte ich hinzufügen: Die Legende vom Weltuntergang wird nicht gelingen.
     
    Wir drehen in der Ruine des Kaufhauses. Nach der Revolution war es das Gebäude des NKWD . Während der Perestroika wurde es in Brand gesteckt.
    Lescha streift durch die Trümmer, pfeift, redet mit den Vögeln. Sie antworten auf sein Pfeifen.
    »Also, was willst du?« fragt mich der Regisseur. »Was soll er machen?«
    Ich weiß selbst nicht, was ich will.
    Leschka hat Holzspäne gesammelt, zündet sie an, wärmt sich die verfrorenen Hände über dem Feuer. Rote, große Hände, die denen von Nadjka gleichen.
    »Stop«, sage ich, und mein Herz steht einen Augenblick lang still. »Stop.«
    Ich hab's gefunden. Das war es, was Nadjka, die Närrin in jener Nacht tat, als der Weltuntergang bevorstand. Als wir sie allein in der Stadt zurückließen. Natürlich, sie machte ein Feuer. Es war kalt. Sie wußte nicht, daß man kein Feuer machen durfte, und sie wärmte sich die verfrorenen großen, roten Hände.
    »Das filmen wir«, sage ich.
    Jetzt hatte ich meine Legende von unserer Stadt gefilmt.
    Nun konnten wir abreisen.
     
    Ich gehe ins Geschäft, um Brot zu holen. Vor dem Geschäft klafft wie immer eine Baugrube. Wieder ein Wasserrohrbruch, der repariert wird. Ich gehe auf dem schmalen unsicheren Pfad um die Grube herum. Und plötzlich, fast am Ende, kommt mir Nadjka entgegen, einen Laib Brot unter dem Arm. Wir begrüßen uns, bleiben am Rand der tiefen Grube stehen. Offensichtlich freut sich Nadjka, mich zu sehen. Ich weiß nicht, worüber ich mit ihr reden soll, seit dreißig Jahren weiß ich es nicht, deshalb grüßen wir uns nur noch. Aber jetzt zögere ich aus irgendeinem Grund. Ich sehe in ihr lächelndes, schwachsinniges Gesicht, in ihre schwach
sinnigen leeren Augen und stelle ihr unwillkürlich die förmliche Frage: »Nadjka, wie geht es dir?«, und erwarte die ebenso förmliche Antwort: »Ganz gut.« Doch plötzlich stöhnt sie dumpf auf, als hätte ich ihr mit dieser Frage wie mit einer stumpfen Axt auf den Kopf gehauen und als hätte sich bei ihr dort im Kopf plötzlich etwas gelichtet, Verstand blitzt in ihren Augen auf, klar und scharf sieht sie mich an, und aus ihrem Mund kommen Worte, die mir das Herz zusammenziehen: »Mal so, mal so, Sweta. Manchmal so elend, daß ich den Kopf in die Schlinge stecken will. Aber manchmal ist es in Ordnung. Ich lebe. Es ist in Ordnung …« Wir stehen am Rand der Grube, mir ist schwindlig, und ich habe das Gefühl, wenn wir jetzt nicht sofort auseinandergehen, falle ich hinunter. »Komm, laß uns von der Grube weggehen«, sage ich zu Nadjka, »ich fall noch hinein.« Nadjka schaut in die Tiefe und sagt: »Damals hab ich mich hier die ganze Nacht versteckt, weißt du noch, als uns die Amerikaner bombardiert haben?« Es zerreißt mir das Herz. »Wo hast du dich versteckt?« frage ich hohl,

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