Das wilde Leben
Weltall. Die ersten Raketenstarts. Und dann sind wir schon bei den zeitgenössischen Raketen. Aber das ist alles nicht das richtige.
»Schurik, das ist alles nicht das richtige«, sage ich.
»Was braucht ihr denn?« fragt Schurik.
»Den Weltuntergang«, sage ich.
Schurik sieht mich scharf an und geht hinaus. Er kommt mit einem Film zurück, der die Explosion beim Raketenstart im Weltraumzentrum Baikonur zeigt, bei der General Nedelin umkam. Dort kamen auch viele von unseren Offizieren um, denn Kap Jar und Baikonur waren wie kommunizierende Röhren: Unsere Offiziere fuhren zu den Raketenstarts dorthin, und die Offiziere von Baikonur kamen zu uns. Bis heute kann ich mich an das Wehgeschrei, das Weinen und Klagen erinnern, das unsere Stadt in jenen Tagen erfüllte.
Bei den ersten Bildern verstummen wir. Erstarrt sehen wir uns die entsetzlichen Szenen der Atomkatastrophe an, die hier dokumentarisch festgehalten worden ist. Auf der Leinwand sehen wir die Apokalypse. So abgebrüht das klingen mag – das sind die Bilder, die wir brauchen. Der Regisseur und ich wollen aufbrechen.
Schurik hält mich zurück. In der Hand hält er eine Dose mit einer Filmspule.
»Sieh dir das noch an. Ich habe es extra für dich mitgebracht.«
Der Regissseur geht hinaus. Ich bleibe.
Eine Chronik der letzten fünfzehn Jahre. Über den Anfang der Perestroika, als man begann, im Rahmen des Abrüstungsprogramms der USA und der UdSSR auf dem
Übungsgelände von Kapustin Jar die SS -20 Raketen zu vernichten. Damals waren das die stärksten sowjetischen Raketen. Eine liegt mitten in der Steppe, wie ein gestrandeter Wal am Meeeresufer. Menschen laufen hin und her. Offiziere bereiten die Rakete für die Vernichtung vor. Auf Tribünen sitzen Leute wie bei einem Fußballpiel oder einer Parade. In den vorderen Reihen ausländische Beobachter und Journalisten, dahinter die Frauen der Offiziere, aufgemacht wie im Theater. Im Vordergrund ein Offizier mit unbewegtem Gesicht. Er zieht am Ohrläppchen, um zu hören, ob es ein Geräusch gibt oder nicht, und an dieser Bewegung erkenne ich ihn. Mein Klassenkamerad Sascha Woronin. Er ist der Vollzugsoffizier, derjenige, der die aus der Fabrik gebrachte Rakete überprüft und startbereit macht. »Saschka streichelt den Körper einer Rakete, als wäre es der Körper seiner Liebsten«, belustigte sich einmal ein anderer Klassenkamerad von mir, Sergej Kapjarski, der auch Raketenstarter wurde. Und die Raketen erwiderten Saschas Liebe. Saschas Raketen trafen immer ihr Ziel, sie flogen irgendwie mit einer besonderen Verständigkeit und Virtuosität, sie waren voll banger, herzklopfender Erwartung, wie Lebewesen. Sie flogen so schön! Sascha war ein Genie, er war ein Raketenmozart, und genauso wie Mozart war er auch ein »trinklustiger Tunichtgut«. Ach wie viele trunkene, verrückte Abende haben wir in der Laube in meinem Garten verbracht, wenn wir Klassenkameraden, die hier in Kap Jar geblieben waren, uns trafen! Wie er Gitarre spielte, wie er Witze machte, wie er lachte! Ach, wie viele Fischsuppen, wie viele Eimer voller Krebse haben wir nach dem Angeln an der Achtuba gekocht! Ach, wie viele Wünsche haben wir uns ausgedacht, damals, im August, wenn die Stern
schnuppen fielen. Wir waren weder enge Freunde noch Liebende, nichts Tieferes verband uns miteinander. Ich war nur seine ehemalige Klassenkameradin, aber er nahm mich, um mit mir das Leben zu feiern, so wie ein Künstler unweigerlich eine Künstlerin wählt.
Doch jetzt erkenne ich ihn nicht wieder.
Er bewegt sich sehr seltsam, als wäre etwas in seinem Organismus gestört. Mal hebt er zum falschen Zeitpunkt die Hand, mal dreht er sich nicht rechtzeitig um. Er tritt an die Rakete heran, und als er den Auslösemechanismus einstellt, breitet sich eine Traurigkeit über sein Gesicht, als sollte er die eigene Mutter erstechen. Oder als begrabe er ein Kind.
Alles ist zur Zündung bereit. Da kriecht eine riesige violette Wolke ins Bild. Solche Wolken gibt es nicht in der Natur. Aber sie ist da. Ein Gewitter unglaublicher Stärke entlädt sich. Donner schlägt, Blitze zucken, der Regen steht in der Luft wie eine dichte Wand. Die Journalisten auf der Tribüne werden in den Garderobenkiosk verfrachtet. Die Frisuren der Offiziersgattinnen verwandeln sich in triefende Strähnen. Sascha Woronin hebt die Hand. Er gibt das Kommando zur Zündung. Er winkt. Ein Laut ertönt, der ebensogut ein Donnerschlag wie eine Explosion sein könnte. Ein gewaltiger Blitz zerreißt
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