Das wilde Leben
»in dieser Grube?« »Ja, ja,« sagt Nadjka, »ich durfte nicht im Autobus mitfahren, da bin ich nach Haus gelaufen, es war dunkel, und ich bin in die Grube gefallen.« »Du hast die ganze Nacht hier gesessen?« frage ich. »Zuerst hab ich geschrien«, sagt sie und verstummt. »Und dann? Was war dann?« frage ich. Aber sie schweigt beharrlich. Die Klappe ist wieder zu. Ein Schleier breitet sich über ihre Augen. Sie sieht mich leer und schwachsinnig an. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Ich gehe vorsichtig um sie herum und verschwinde rasch im Geschäft. Ich gehe und weine stumm, ohne Tränen. Warum war ich hierher gekommen? Warum mache ich diesen Film? »Lieber Gott, verzeih mir das mit Nadjka«, bitte ich.
Ich sehe mich um. Nadjka steht immer noch reglos an der Grube und sieht mich mit ihren schwachsinnigen Augen an.
»Nadja …«, sage ich zu ihr.
Wieder leuchtet etwas in ihren Augen auf. Sie macht einen Schritt in meine Richtung, ich stürze auf sie zu. Ich umarme sie, und sie stupst immer wieder ihr Gesicht, das sofort tränennaß ist, an meines, wie ein Kind, das noch nicht küssen kann. Sie küßt mich nicht mit den Lippen, sondern mit dem ganzen Gesicht, mit den tränennassen Wangen, der Stirn, dem Kinn …
»Ich haatte soooo große Angst.« Sie schielt hinunter in die Grube. »Allein, ohne dich …«
Ich blicke in ihr verweintes Gesicht und sage ratlos:
»Ich weiß, Nadja … Nadja, verzeih mir …«
Und ich denke mir, daß Gott damals Nadjka gerettet hat und nicht uns. Wenn es wirklich einen Krieg gegeben hätte, wären wir dort draußen in der offenen Steppe sofort bei der ersten Stoßwelle umgekommen. Aber Nadjka in der tiefen Grube hätte überlebt. Vielleicht als einzige von allen Menschen.
Vor der Abreise bekommt der Regisseur Herzprobleme. Die übermäßige Anspannung der letzten Tage macht sich bemerkbar. Ich gehe ins Hauptquartier, um mich von Oberst Jura zu verabschieden.
Der Oberst ist allein in seinem Zimmer. Er sitzt am Tisch und schreibt etwas. Auf meinen Gruß hin schaut er nicht auf und brummt nur etwas Unverständliches.
»Also, wir fahren jetzt«, sage ich. »Ich wollte mich verabschieden.«
Jura hebt den Kopf und wendet mir sein finsteres Gesicht zu.
»Na?« sagt er und starrt mich an. »Habt ihr den Film über euren Narren fertig?«
Ich werde verlegen.
»Jura! Wir haben einen Film über meine Kindheit gedreht«, sage ich vorsichtig.
»Verarsch mich nicht!« sagt er aggressiv. »Diese ver … flixten Intellektuellen!« Und er fährt fort, zu fluchen wie ein Kutscher. Ich drehe mich auf dem Absatz um.
»Du hältst uns hier wohl für Schafe, was? Alle gleich belämmert, was? Die Aufklärung funktioniert bei uns allerdings noch. Und ich habe vom ersten Bild an gewußt, warum ihr hier filmt …«, ruft er mir hinterher.
»Warum hast du uns dann nicht davon abgehalten?« Jetzt werde ich auch wütend.
Er schweigt, und ich sehe mich um.
Sein Blick ist unglücklich.
»Ach, filmt doch, was ihr wollt«, sagt er müde. »Die Stadt ist sowieso hin. Alles verfällt«, setzt er bitter und leidenschaftlich hinzu. »Swetka, kapierst du das denn nicht? Wir haben das Land versaut. So ein Land! …«
Wir verabschieden uns als Freunde. Er sieht mich schief aus seinen Pferdeaugen an und fragt plötzlich verlegen:
»Kannst du dich noch an den Hügel erinnern? Wie wir zusammen da hochgestapft sind?«
Hier in dieser Stadt erinnern sich alle immer an ihre Kindheit. Und wenn Gott uns alle zu sich ruft, werden wir als kleine Kinder vor ihm stehen, alle in einer Reihe, und ihm von unserer Kindheit erzählen: wie wir in der Steppe Tulpen gepflückt haben, wie wir die kleinen, vereisten Hü
geln hinuntergerodelt sind und uns geküßt haben, wie wir nachts in der Steppe auf den Tod gewartet haben – ja, wir haben Ihm allerhand zu erzählen, aber nur aus der Kindheit, an das andere können wir uns nicht erinnern. Und vielleicht wird er uns verzeihen.
»Jura, daran, an diesen Hügel, werde ich mich mein Leben lang erinnern«, sage ich.
»Das Leben …«, sagt Jura traurig, »wie schnell es vergangen ist!«
»Vom Leben bleiben nur Legenden«, erwidere ich, wie ein Echo. Dieser Satz klingt jetzt immer in mir, wie eine Musik.
»Wenn sie bleiben«, sagt Jura.
»Ich tue, was ich kann, damit sie bleiben«, sage ich.
»Du hast uns das … Mach's nicht ganz runter, da in deinem Film. Du bist doch von hier, aus Kap Jar. … laß den Leuten eine Hoffnung«, sagt er und sieht mir in die Augen. Und
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