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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Vaters zu wiederholen. Unklare Erinnerungen an das Schicksal von Menschen, die sich das Leben genommen hatten, bedrängten sie: Sie durften nicht in geweihter Erde beigesetzt, sondern mußten an Straßenkreuzungen begraben werden, damit ihre Seelen nicht wandern konnten. Sie war überwältigt von Scham und Entsetzen. Daß er seiner Familie so etwas antun konnte! Daß er den Schmerz seiner Tochter so gering achten sollte! Als der Coroner Maia unter Eid fragte, ob ihr Vater je Selbstmordabsichten angedeutet habe, antwortete sie mit einem klaren und entschiedenen Nein.
    An die Beerdigung danach hatte sie kaum Erinnerungen. Sie ließ sich von den Leuten die Hand schütteln; sie blickte ihnen durch ihren schwarzen Schleier in die Augen und versuchte zu erkennen, ob sie es errieten. Sie fragte sich, als sie erst Robin und dann Helen umarmte, ob auch dies als Meilenstein im Leben einer Frau zählte. Ob der Selbstmord eines Vaters ebenso bedeutsam war wie der Verlust der Unschuld oder die erste Auslandsreise. Sie fand, ja.
    Robin flüsterte ihr zu: »Du mußt eine Weile zu uns kommen, Maia – du brauchst Ruhe. Meine Eltern möchten, daß du kommst.« Maia faßte Robin beim Ärmel und stieß sie in eine Ecke des Zimmers.
    »Ich halte das nicht aus. Lauft mit mir weg, ja?«
    Als Maia durch eine Seitentür hinausschlüpfte und durch den Garten rannte, wußte sie, daß sowohl Robin als auch Helen hinter ihr waren. Sie holten sie ein, als sie mit flatterndem schwarzem Schleier und fliegendem Mantel, dessen leichter Stoff sich von der Geschwindigkeit ihres Laufs hinter ihr blähte, die Hills Road hinunterrannte.
    »Maia –« Helen war außer Atem. »Wohin wollen wir überhaupt?«
    Maia hielt kaum inne, um ihre Freundinnen anzusehen. »Auf den Fluß, dachte ich.« Sie kramte in ihren Taschen und fand genug Münzen, um ein Punt zu mieten.
    Hinterher war sie gerührt, daß sie ihren verrückten Wunsch, in schwarzer Trauerkleidung auf dem Cam dahinzugleiten, nicht einen Moment in Frage gestellt hatten.
    »Wie Charon«, sagte Robin, die stakte.
    »Oder die drei Nornen.« Maia zog die Nadeln aus ihrem Hut und warf ihn aus dem Boot. Er blieb kurz an der gefiederten Rispe eines Schilfrohrs hängen, dann fiel er ins Wasser, schaukelte einen Moment auf und nieder, bevor er unterging und verschwand.
    Helen, die neben Maia saß, legte ihr tröstend die Hand auf den zitternden Arm. Tränen des Mitleids standen in ihren Augen. »Arme Maia. So ein schrecklicher Unfall.«
    Maia schüttelte heftig den Kopf. »Kein Unfall.« Sie schlug ihre Hand auf ihren Mund, als wollte sie die Worte aufhalten, die ihr wider besseres Wissen entkommen waren.
    Helen sagte beschwichtigend: »Aber natürlich war es ein Unfall, Maia, du Arme«, doch Maia spürte, daß Robin, die hinten im Boot stand, sie anstarrte.
    »Maia …?«
    »Daddy hat sich das Leben genommen.« Die Worte klangen spröde und abgehackt. Maia war heiß und übel. »Ich weiß es. Er hat es gesagt.«
    »Aber bei der Untersuchung –«
    »– hab ich gesagt, daß es ein Unfall war. Natürlich. Hättest du das nicht getan?«
    Sie sah erst Robin, dann Helen herausfordernd an. In der Stille stieg Ärger in ihr auf. »Na los, was hättet ihr denn getan?« wiederholte sie, wohl wissend, daß ihre Stimme mehr aggressiv und ärgerlich klang als bekümmert. »Jetzt findet ihr mich wohl beide schlecht. Unehrlich …«
    Ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen und zerrissen die dünne schwarze Seide ihrer Handschuhe. Das Boot schwankte, als Robin den Staken niederlegte und nach vorn kam, um sich ihr gegenüber zu setzen.
    Helen sagte sanft: »Wir denken nicht schlecht von dir, Maia. Wir möchten dir nur helfen.«
    »Du hast das getan, was du für das Beste gehalten hast, Maia.« Robins Miene war ernst. »Keine von uns hat durchgemacht, was du durchgemacht hast. Wir können uns kaum vorstellen, was für eine schlimme Zeit du hinter dir hast. Und Helen hat recht – wir wollen alles tun, um dir zu helfen. Das mußt du uns glauben.«
    Maia fühlte, wie ihre verkrampften Hände auseinandergezogen wurden. Helens adrett behandschuhte Rechte umschloß die eine Hand, Robins schmuddelige Finger umfaßten die andere. Maia flüsterte: »Ich möchte nie wieder darüber sprechen. Nie wieder«, und hörte ihre gemurmelten Versprechen.
    Ein anderes Versprechen als jenes, das sie einander im Frühling gegeben hatten. Ein dunkleres Geheimnis, das sie miteinander verband, vielleicht unlösbar. Sie hatte ihren

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