Das Winterhaus
das wäre schön, Adam.«
Er nahm ihre Hand und führte sie in den Kreis, der sich gebildet hatte. Die Musik begann wieder zu spielen, der Kreis teilte sich in zwei, die sich dem uralten Muster folgend miteinander verschlangen, auflösten, neue Figuren bildeten. Schneller und schneller wurde der Tanz, die vertrauten Gesichter der Dorfbewohner und der schäbige Saal sahen verändert aus im Rausch von Geschwindigkeit und Lust. Auch Helen lachte; auch Helen fühlte sich dazugehörig. Sie lag in Adams Armen und ließ sich herumwirbeln, während sie kleine Kreise innerhalb des größeren drehten.
Der Tanz endete, der Saal hallte wider von Musik und Gelächter. Die Dorfbewohner griffen durstig nach ihren Bierkrügen; Helen tupfte sich das heiße, schweißfeuchte Gesicht mit ihrem Taschentuch.
»Ein Glas Zitronenlimonade, Miss Helen?«
Sie sah ihn lächelnd an. »Nein, danke, Adam. Ich glaube, ich brauche ein bißchen frische Luft.«
Er ging mit ihr zur Seitentür und hielt sie ihr auf. Als die Tür hinter ihnen zufiel, standen sie plötzlich in der Stille.
»Ach, war das ein Spaß«, sagte Helen immer noch außer Atem. »Ich tanze schrecklich gern.«
Der Vollmond leuchtete gelb, und Sterne sprenkelten den tintenschwarzen Himmel. Kein Lüftchen bewegte Gras und Schilf; nur Stille und kühle frische Luft, in der ein erster frostiger Hauch des Winters lag.
»Schön«, sagte Helen aufblickend.
»›Wenn die Winde leise atmen und die Sterne helle funkeln.‹«
Sie vernahm kaum Adams geflüsterte Worte und sah ihn überrascht an. »Adam! Das ist doch Shelley, nicht? Ich wußte gar nicht, daß Sie Gedichte mögen.«
Er antwortete nicht, und ihre Worte hingen wie ein Echo in ihren Ohren; die Stimme, der die gedehnten Vokallaute der Fens fehlten, der Ton, der gönnerhaft und herablassend war und sie von Adam Hayhoe trennte, den sie immer gern gehabt hatte. Sie wurde rot, suchte nach Worten der Entschuldigung, aber bevor sie sie fand, blickte sie auf und sah ihren Vater kommen.
»Du meine Güte, Helen – wo hast du denn deinen Mantel? Du wirst dich erkälten.«
Auf dem Heimweg vergaß Helen ihre Verlegenheit und sah wieder zum Himmel und den Sternen hinauf. Der schönste Ort auf Erden, dachte sie, als sie sich bei ihrem Vater einhakte. Sie rief sich den Vers ins Gedächtnis, aus dem Adam zitiert hatte.
Träumend von dir erwache ich
Aus erstem süßem Schlaf im Dunkeln
Wenn die Winde leise atmen
Und die Sterne helle funkeln.
Plötzlich war es fast Oktober, und Daisy packte den großen Koffer, den Robin nach Girton mitnehmen würde. Stapel geflickter und gebügelter Röcke und Blusen türmten sich auf ihrer Kommode, stumme Mahner an ein Los, mit dem sie sich immer noch nicht abgefunden hatte. Kalter Wind und peitschender Regen, die passende Untermalung zu Robins Stimmung, rissen vorzeitig die Blätter von den Weiden am Fluß. Sie schloß sich im Winterhaus ein und sah zu, wie die dicken Tropfen an der Fensterscheibe herunterrannen. In Pullover und Mantel vermummt, las sie eine Stunde lang ungestört und legte die Bücher erst zur Seite, als sie draußen auf der regennassen Veranda Schritte hörte.
Hugh stieß die Tür auf. »Ma läßt dir sagen, daß es gleich Zeit zum Mittagessen ist, Rob.«
Robin setzte sich auf.
»So eine Art Festessen – Cremetorte, dein Lieblingsdessert –« Hugh brach ab und sah sie scharf an. »Hoppla – hast du geheult? Was ist denn?« Er hielt ihr sein Taschentuch hin.
»Ich habe die traurigen Stellen gelesen. Little Nell – David Copperfields Mutter.« Robin wich Hughs Blick aus und schneuzte sich. Hugh war nicht überzeugt. »Na komm, ich besuche dich, sooft ich kann, Rob. Und ich komme jedes Wochenende und hole dich nach Hause.«
So hoffnungslos mißverstanden, fühlte sie sich nur noch undankbarer und niedergeschlagener. »Das ist es doch gar nicht –« Als sie sich auf ihrem Sessel bewegte, fielen die Bücher zu Boden.
»Was ist es dann?« Hugh hockte sich zu ihr auf die Armlehne und sah zu ihr hinunter. Er zauste Robin das wirre Haar, das sie an diesem Morgen zu bürsten vergessen hatte, und sagte: »Nun komm schon, mir kannst du es doch sagen.«
Die Wahrheit, die sie so lange zurückgehalten hatte, sprang ihr über die Lippen, ehe sie es verhindern konnte.
»Ich will nicht nach Girton.«
Hugh machte einen Moment große Augen, dann sagte er: »Doch nicht weil du Angst hast, daß du Heimweh bekommst?«
»Heimweh!« Robin wies mit heftiger Bewegung zum Fenster. »Schau dir
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