Das Winterhaus
Segen gebraucht, erkannte sie.
Und konnte endlich weinen. Zum erstenmal seit Wochen erinnerte Maia sich, daß sie bei ihren Freundinnen einen Ort sicherer Zuflucht gefunden hatte, an den sie jederzeit zurückkehren konnte, wenn sie es brauchte. Das Schilf, die anmutigen Brücken, die den Fluß überwölbten, und die Schwäne, die am Ufer entlangglitten, verschwammen vor Maias Augen, als sie zu weinen begann.
Helen und ihr Vater nahmen jedes Jahr am Erntefest teil. Es wurde im Gemeindesaal der Kirche abgehalten, Speisen und Getränke von Lord Frere, dem größten Grundbesitzer von Thorpe Fen, gestiftet. Die Freres lebten im Großen Haus, das zwischen Thorpe Fen und dem Nachbardorf gelegen war; es hatte einen anderen, würdigeren Namen, aber für die Bewohner von Thorpe Fen war es immer nur das Große Haus.
Das Erntefest war eine der wenigen Dorfveranstaltungen, auf die Helen sich stets freute. Die Beschränkungen und Zwänge, die das Dorfleben bestimmten, schienen sich dann ein wenig zu lockern, und sie fühlte sich an die Abende erinnert, die sie gelegentlich bei den Summerhayes verbrachte; chaotisch, verwirrend und laut, aber dennoch herrlich.
Im ersten Jahr ihrer Bekanntschaft mit den Summerhayes hatte sie der Familie gemischte Gefühle entgegengebracht. Robins Gleichgültigkeit gegenüber der Religion, die in Helens Leben eine entscheidende Rolle spielte, hatte sie tief erschüttert. Ihr wurde heute noch heiß, wenn sie sich an den Tag erinnerte, an dem ihr Vater die Wahrheit entdeckt hatte: »Die Summerhayes sind Atheisten, Helen. Sie haben keinen Glauben. Man muß daher ihre Moral in Frage stellen.«
Einen ganzen Monat lang hatte sie danach Robin und Hugh und Daisy und Richard gemieden. Aber sie hatte sich doch wieder zu ihnen hingezogen gefühlt. Das Leben war – ein anderes Wort fiel ihr nicht ein – öde gewesen ohne sie – und Daisy hatte verletzt gewirkt, Robin war zornig gewesen, und Richard hatte sie als Sängerin für das neue Lied gebraucht, das er für sie und Maia geschrieben hatte. Hugh hatte Helen herzlich umarmt, als sie wiedergekommen war, und seitdem hatte sie sich über Atheismus und mangelnde Moral keinerlei Gedanken mehr gemacht. Sie brauchte die Summerhayes, und diese (sie wagte kaum, es zu glauben) schienen sie zu brauchen. In diesem Fall konnte sie ihrem Vater nicht zustimmen. Doch sie war vorsichtig, rationierte ihre Besuche und hielt sie kurz. Und niemals erwähnte sie vor ihrem Vater Richards und Daisys manchmal exotische Gäste.
Nach dem Erntemahl begann der Tanz. Elijah Readman schrubbte auf seiner Geige, und Natty Prior spielte die Ziehharmonika. Helen, die neben ihrem Vater in einer Ecke des Saals saß, ertappte sich dabei, daß sie mit den Füßen wippte. Die schweren Stiefel der Dorfbewohner traten stampfend auf den Holzboden; die Tänzer drehten sich und umkreisten einander, bildeten in ihren farblosen Gewändern, die hier durch ein buntes Tuch, dort durch eine billige Perlenkette aufgehellt waren, immer neue Muster in dem dämmrig erleuchteten Saal.
Der Tanz endete, und Adam Hayhoe stand auf, um zu singen. Seine kräftige Stimme ging beinahe unter im rhythmischen Klappern der Holzschuhe und im Klatschen zahlloser Hände, doch Helen kannte den Liedtext von vielen früheren Erntefesten, und ihre Lippen bewegten sich zu der Melodie. »As I walked out one May morning, one May morning so early …«
Sie hörte ihren Vater flüstern: »Seine Lordschaft ist da. Helen – kommst du mit, um ihn mit mir zusammen zu begrüßen?«
Sie schüttelte schnell den Kopf. Sie hatte Angst vor Lord Frere; und sie hatte niemals den gräßlichen Nachmittag in Brackonbury House vergessen, als sie mit den Frere-Mädchen spielen sollte, von diesen jedoch hochmütig ignoriert worden war.
»Es ist so kalt draußen.«
»Natürlich, mein Kind.« Er legte seine Hand auf ihre Schulter. »Sobald Seine Lordschaft und ich miteinander gesprochen haben, gehen wir nach Hause.« Julius Ferguson sah sich mit großen blaugrauen Augen im überfüllten Saal um. »Ich werde froh sein, wenn diese Tradition stirbt. Ich habe immer das Gefühl, daß in diesen Festen mehr als nur eine Spur Heidentum steckt.«
Er ging aus dem Saal, und Helen schloß die Augen und überließ sich wieder der Musik.
Jemand sagte: »Möchten Sie tanzen, Miss Helen?«
Adam Hayhoe stand vor ihr. Adam war groß, dunkel, kräftig, der Dorfzimmermann. Sie konnte sich nicht an eine Zeit erinnern, da sie Adam nicht gekannt hatte.
»Ach,
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