Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
Vom Netzwerk:
gewohnt war.
    Dann wurde mir schwarz vor Augen. Die Bank war gar keine schlichte, verwitterte Bank mehr; sie war ein Floß, das vollkommen steuerlos in einen wilden Strudel geraten war. Ich wirbelte irgendwo davon, in einem schattigen Halbdunkel, in dem das Atmen und Denken beinahe unmöglich waren.
    Ich musste gar nicht mehr bis zum 24. Dezember mit dem Sterben warten. Sterben konnte ich auch hier und jetzt, bei Sonnenaufgang an einem verlassenen See, und nur ein unbeirrbarer Fischreiher und einige verschlafene Enten würden mir dabei zusehen.
    Ein paar Gerüche umgaben mich in meiner atemlosen Dunkelheit. Ich roch plötzlich Iras Nähe. Sie hatte diesen leichten Duft nach Lavendel, und ich sah sie auch, wie sie abends bei halb geöffneter Tür im Badezimmer saß und sich das Haar kämmte. Ich hatte nie verstanden, warum sie das tat. Aus welchem Grund sollte man sich abends, bevor man ins Bett ging, langsam, mit grenzenloser Geduld die Haare kämmen? Aber ich war ein Mann. Ich verstand solche Dinge nicht. Ich hatte auch viele andere kleine Gewohnheiten nicht verstanden, die Ira liebte und an denensie beharrlich festhielt, auch wenn sie mir nicht gefielen. Warum hatte sie Postkarten aus allen Winkeln der Erde gesammelt, warum stellte sie neue Schuhe in den Regen hinaus und warum hatte sie unseren Sohn nach seinem Tod von einem ungeheuer teuren Künstler malen lassen, allerdings so, dass nur sie allein ihn auf dem Bild wiedererkennen konnte?
    Ich hatte all das nie begriffen, und ich verstand es auch jetzt nicht, während ich erschöpft und mühsam nach Atem ringend auf der Bank lag, aber ich entdeckte etwas anderes. Ira fehlte mir. Ich hätte gern noch einmal ihren Geruch eingeatmet, hätte gerne ihre Hand auf meiner Stirn gefühlt, wie nach der Herzoperation, als sie zwei Tage fast ohne Pause an meinem Bett gesessen hatte. Sie konnte viele kleine alltägliche Dinge so viel besser als ich. Sie kannte etliche Sternbilder mit Namen, wusste immer, welcher Blumenstrauß zu welchem Anlass am besten war; sie konnte stundenlang mit Leuten reden, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, und sie schaffte es tatsächlich, in ein Konzert zu gehen und nur Musik zu hören, statt ans Geschäft zu denken, daran, ob die Kakaopreise steigen würden und ob der Bau der Fabrik in Rumänien nicht vielleicht doch ein Fehler gewesen war.
    Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis meine Sinne wieder normal arbeiteten. Als ich endlich aus meiner Erschöpfung auftauchte und die Kraft fand, mich aufzurichten, sah ich den Fischreiher ein paar Meter vor mir auf dem Steg, und weit draußen auf dem See glitt ein Ruderboot vorbei. Eine Gestalt saß in dem Boot. Obwohl es keinen Grund für diese Annahme gab, glaubte ich zu wissen, dass es die rothaarige Orgelspielerin war. Sie ruderte mit ein paar kräftigen Schlägen auf den See hinaus, und dannließ sie sich treiben. Vollkommen aufrecht saß sie da und schien in einem Buch zu lesen. Für einen Moment war das ein schönes Bild, dann erhob der Fischreiher sich und segelte über sie davon, aber keiner nahm Notiz vom anderen, als befände jeder von ihnen sich ganz in seinem eigenen Reich und wäre für den anderen unsichtbar.
    Ich ging zu meinem Haus zurück. Niemand würde den Fischreiher töten, schwor ich mir, auch wenn ich zu seinem Schutz vielleicht ins Dorf gehen müsste, um der Polizei eine Meldung zu machen. Oder wenn ich möglicherweise einen Mann anstellen müsste, um morgens und abends auf dem Deich Wache zu schieben.
    Ich hatte Besuch bekommen. Überraschenden, unliebsamen Besuch, wie ich mit einem Blick feststellen konnte. Niemand, dem ich jetzt gerne begegnete wäre, käme an einem Montagmorgen in einem schwarzen, auf Hochglanz polierten Mercedes der S-Klasse vorbei. Der Wagen stand stolz und protzig direkt vor dem Gartentor. Das Autokennzeichen sagte mir nichts, aber ich roch gleich wieder den jungen Borger. Er hatte sich mit seinem Besuch ziemlich beeilt, und vielleicht saßen seine Spione schon mitten im Dorf. Ich hatte einen schweren Fehler begangen, indem ich dem freundlichen Postboten den Brief abgenommen hatte. Also wusste Borger, dass ich mich im Haus am See versteckt hielt.
    Nun, sie würden auf meine Gesellschaft verzichten müssen: Borger und vielleicht ein, zwei andere seriöse Herren einer noch seriöseren Bank, die meinen Ruin offiziell und endgültig machen wollten. Ich hielt mich hinter ein paar alten Pappeln verborgen und wartete. Immerhin war ich wieder zu Atem gekommen.

Weitere Kostenlose Bücher