Das Winterkind
schuldig gewesen. Am Anfang hatte es wie eine harmlose Lungenentzündung ausgesehen, nicht wie Lungenkrebs im letzten Stadium, wo sie doch nie geraucht hatte, im Gegensatz zu ihm … Mein Vater war nicht nur ein Meister des Schweigens gewesen, sondern hatte auch die Gewohnheit gehabt, wenn er einmal in Fahrt gekommen war, sich in endlosen Monologen zu verlieren. Ganze Abteilungsleiterrunden hatte er mit seinem Gerede für Stunden lahm gelegt. Am Ende war er nur noch ein sentimentaler alter Mann gewesen, dem ein paar Dinge aus seiner Vergangenheit Angst machten. Vielleicht hatte er sogar seinen Tod herbeigesehnt. Ich wusste es nicht.
Der Kaffee war so bitter, dass ich ihn wegschütten musste.Auch das Brot schmeckte alt und fade, aber ich war zu müde, um ins Dorf zu gehen. Außerdem war es schon kurz nach zwölf. Der einzige Supermarkt würde um ein Uhr schließen, wenn er an einem langen, ereignislosen Montag überhaupt geöffnet hatte.
Über dem Spülbecken stand auf einem Regal ein einzelner silberfarbener Topf, und plötzlich, im Vorbeigehen entdeckte ich mein Gesicht wie in einem Spiegel, der alles so verzerrte, dass es der eigentlichen Wahrheit viel näher kam. Ich erblickte meine grauen, rissigen Wangen und meine trüben, grünlichen Augen hinter den Brillengläsern. Ich hatte abgenommen und sah eindeutig ein wenig heruntergekommen aus, wie ein Privatgelehrter, der sich nichts mehr aus der Meinung der anderen machte. Aber irgendwie gefiel mir dieser Anblick auch, zumindest erschreckte er mich nicht mehr wie noch vor ein paar Tagen.
Vielleicht war ich so in mein eigenes Spiegelbild vertieft, dass ich das Klopfen an der Tür nicht sofort hörte. Ein lautes, eindeutiges Pochen. Der junge Borger hatte sich nicht allzu viel Zeit gelassen. Ich verharrte in der Küche, drückte mich an die Wand neben den Herd, so dass man mich vom Fenster aus nicht sehen konnte. Sollten sie sich wieder ihre Nasen platt drücken! Zum Glück war ich vorsichtig genug gewesen, die Tür abzusperren. Nichts anderes musste ich tun, als still zu sein und abzuwarten, und sie würden genauso ratlos wieder abziehen, wie sie gekommen waren.
Doch dann geschah etwas, das nicht Borgers Handschrift trug, oder aber er war zu meinem Erstaunen so fantasievoll gewesen, sich einen Schlosser zu besorgen oder einen tüchtigen Schlüsseldienst in dieser öden Gegend ausfindig zu machen, der keine Fragen stellte.
Ein Schlüssel wurde ins Schloss geschoben, dann, nach einem leichten Zögern wurde er vorsichtig herumgedreht, wie mir ein leichtes metallisches Geräusch verriet. Im nächsten Moment sprang die Tür auf.
Noch nie hatte ich einen solch simplen Vorgang wie das Offnen einer Tür mit so heftigem Herzklopfen beobachtet. Ich konnte keine Stimmen wahrnehmen, sah auch keine Hand, die sich an der Tür zu schaffen machte. Ein Geist hatte die Tür geöffnet, allerdings mit einem echten Metallschlüssel.
Ich rührte mich nicht, atmete ganz flach und lautlos und hielt meinen Blick auf die Tür gerichtet. Niemand zeigte sich. Was für ein seltsamer Einbrecher war da am Werk? Borger und seine Banker wären längst mit einem triumphierenden Lachen ins Haus eingezogen, um es sich gemütlich zu machen oder mich mit größter Genugtuung aufzuspüren.
Dann tauchte eine Hand an der Tür auf und versetzte ihr noch einen leichten Stoß, damit sie ganz aufschwang. Die Hand war keine gewöhnliche Hand; sie war blass und schmal und gehörte eindeutig zu einem Kind.
Fast erstaunte es mich nicht mehr, als der Junge in den Türrahmen trat. Er hob den Kopf ein wenig, wie ein Reh, das versuchte, eine Gefahr zu wittern. Dann, weil er sich anscheinend plötzlich sicher fühlte, glitt ein Lächeln über sein Gesicht, das ihn noch jünger und vollkommen arglos erscheinen ließ, und er machte einen ersten, zaghaften Schritt in das Haus hinein.
Was wollte er hier? War er ein kleiner, gerissener Dieb, der sich im Winter in die verlassenen Ferienhäuser schlich? Und wie war er an den Schlüssel gekommen?
Grenzenlose Geduld hatte noch nie zu meinen Stärkengehört. Die Dinge, die ich erledigen wollte, hatte ich meistens sofort tun müssen.
Kaum war der Junge in den winzigen Flur getreten, kam ich aus meinem Versteck in der Küche hervor. »Was willst du hier?«, rief ich noch lauter als beabsichtigt und sprang auf den Jungen zu. Ich wollte das Überraschungsmoment ausnutzen, doch ich war nicht wirklich flink auf den Beinen. Ich geriet ins Straucheln und stürzte über ein
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