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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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Stromkabel, das aus dem Wohnraum zur Küche führte. Mit ein paar ungelenken Armbewegungen versuchte ich mich aufzufangen, und es gelang mir tatsächlich, einen glatten Sturz zu verhindern. Stattdessen prallte ich mit dem rechten Knie auf einen der zwei wuchtigen Holzstühle, die mein schwergewichtiger Vater sich eigens hatte schreinern lassen. Ein heftiger Schmerz explodierte in meinem Bein.
    Die ganze Zeit hatte ich den Jungen angeschaut, so als würde er unter einem festen, erwachsenen Blick zur Salzsäule erstarren – doch vergeblich. Ohne einen Laut von sich zu geben, aber mit dem Ausdruck tiefster Qualen im Gesicht stürzte er zur Tür heraus. Seine hellen Turnschuhen hinterließen kleine, feuchte Abdrücke auf dem Teppich.
    Ich hetzte ihm noch ein paar Schritte nach, auch wenn ich wusste, dass es vollkommen sinnlos war. Der Junge war mindestens dreimal so schnell wie ich. Ich hatte alles falsch gemacht. Ich hätte abwarten und ihn mit einer List einfangen müssen, um endlich herauszufinden, warum er mir nachstellte. Als ich an der Tür war, hörte ich, wie draußen das Tor zugeschlagen wurde. Dann entfernten sich hastige, panische Schritte und verloren sich in der Stille.
    Doch auch dem Kleinen war ein grober Fehler unterlaufen. Der Schlüssel steckte noch im Schloss. Ich zog ihnheraus. Ein gelber Plastikanhänger zierte den Schlüsselring. Das Zeichen auf dem Anhänger war mir so vertraut wie kein anderes auf der Welt. Ein mächtiges, aufrechtes J stand da, das dann fließend in ein ebenso mächtiges G überging. Unser Logo, das mein Vater einst für fünf Mark hatte entwerfen lassen und das noch immer jede Tafel Schokolade zierte, die unsere Fabrik verließ. Der Schlüssel, den der Junge benutzt hatte, schien einmal meinem Vater gehört zu haben.
    Ich spürte, wie mein Knie anzuschwellen begann, und schaffte es gerade noch, mich auf den ersten Stuhl im Wohnraum zu setzen. Ein nasses Handtuch, das ich um das lädierte Knie band, sollte mir Linderung verschaffen.
    Wie war der Junge an den Schlüssel gekommen? Meinen Vater konnte er unmöglich gekannt haben, doch vielleicht besaß sein Vater, der Pastor des Dorfes, noch einen Schlüssel für das Haus. Konnte es sein, dass er meinem todkranken Vater in den letzten Monaten seines Lebens eine Art geistigen Beistand geleistet hatte? Ich würde dem Pastor und der rothaarigen Orgelspielerin einen Besuch abstatten müssen, um der Frage auf den Grund zu gehen.
    Den Nachmittag verbrachte ich reglos auf meinem Stuhl. Von Zeit zu Zeit humpelte ich in die Küche und hielt das Handtuch unter fließendes Wasser, um damit weiter mein Knie zu kühlen. Es war übel angeschwollen und schmerzte so sehr, dass ich nicht einmal ertasten konnte, ob ich mir etwas gerissen oder gebrochen hatte.
    Plötzlich und zum ersten Mal, seit ich in das Haus geflüchtet war, ergriff mich ein ungeheurer Zorn. So ein abrupter Stimmungswechsel war mir früher häufiger passiert, wenn die Dinge nicht so liefen, wie ich sie geplant hatte. Ich riss die Kaffeetasse vom Tisch und schleudertesie gegen die Wand. Auch einen hässlichen gläsernen Aschenbecher zerbrach ich, dann nahm ich mir eine gelbe Vase vor und warf sie gegen die Tür. Immer mehr geriet ich außer Atem, und ich hätte noch mehr Dinge zerschlagen, wenn sie in Reichweite gewesen wären. Erst als ich aufstand, um auch zwei kitschige Ölbilder, die den See im Abendlicht zeigten, von der Wand zu reißen, brachte der Schmerz, der durch mein Knie zuckte, mich wieder zur Besinnung.
    Was ich tat, war sinnlos und albern. Ich hatte auch niemanden mehr um mich, den ich mit meinem Verhalten einschüchtern konnte. Ich konnte nur mir selbst meine eigene Lächerlichkeit demonstrieren. Es spielte überhaupt keine Rolle, ob ich morgen oder nächste Woche oder vielleicht gar nicht mehr ins Dorf ging. Also brauchte ich mich auch nicht darüber aufzuregen, dass ich mich für die nächsten Stunden nicht mehr von der Stelle rühren konnte.
    Als die Dunkelheit hereinbrach, kroch ich die steile Treppe in den Schlafraum hinauf. Ich schaffte es, mir eine Flasche Wasser unter den Arm zu klemmen und eine Kerze mitzunehmen. Die Kerze stellte ich auf dem alten, zerschrammten Nachttisch neben meinem Bett auf und zündete sie an. Ein anderes Licht brauchte ich nicht. Es war, als hielte ich meine eigene Totenwache. Ich war dreiund-fiinfzig Jahre alt, und niemand wusste, wo ich mich befand, dass ich bewegungsunfähig, mit einem lädierten Knie in einem düsteren

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