Das Winterkind
Ich kannte diese Leute. Sie würden ein paarmal um das Haus laufen, sich dieNase an den drei kleinen Fenstern platt drücken und sich gegenseitig gute Ratschläge erteilen, obwohl ihre eigene Ratlosigkeit doch immer größer wurde, aber eines würden sie niemals tun: sich die Zeit nehmen und zum See hinüberlaufen.
Ich musste nicht lange warten. Borger kam als Erster. Er trug einen hellen Trenchcoat über einem dunklen Anzug. Dazu teure italienische Schuhe, denen schon die wenigen Schritte um das Haus nicht gut getan hatten. Zwei ebenfalls dunkel gekleidete Herren folgten. Sie waren sogar noch ein paar Jahre jünger als Borger, hatten ihre Haare in derselben Weise zurückgekämmt, die offenbar gerade in Mode war, und rochen penetrant nach dem Edelstahl einer Bank. Wenn sie Tiere gewesen wären, dann hätte man sie Wölfe nennen müssen; nicht Schakale oder Hyänen. Hyänen waren Aasfresser; sie warteten immerhin, bis ihr Opfer von selbst starb.
Auch wenn Ira es mir nicht geglaubt hatte: Die Bank hatte vor zwei Jahren beschlossen, mich fertig zu machen, nachdem ich mich geweigert hatte zu verkaufen. Sie hatten dem Vorstand eines amerikanischen Lebensmittelkonzerns versprochen, ihnen meinen Kopf auf einem silbernen Tablett zu servieren. Und nun war es ihnen so gut wie gelungen.
Ich beobachtete, wie die drei in den Mercedes stiegen und weiter ihre Ratlosigkeit teilten. Mühelos konnte ich in ihre Köpfe kriechen und mir ihre Fragen vorstellen: Wo ist der widerspenstige Bankrotteur?, lautete ihre erste und wichtigste Frage. Hat er sich wirklich hier verkrochen, oder ist er schon wieder weitergezogen, vielleicht nach Gomera, zu seiner Göttergattin? Dann dachten sie an all die bedeutsamen Papiere, die sie bei sich hatten und aufdenen zu ihrem höchsten Glück nur meine Unterschrift fehlte.
Schließlich ließ Borger den Wagen an. Er sah bekümmert aus, wie er hinter dem viel zu großen Steuer saß. Vier, fünf Stunden war er in aller Herrgottsfrühe hier herausgefahren, und nun dieser Fehlschlag. Drei hochkarätige Fachleute, die pro Stunde mindestens fünfhundert Euro kosteten, da kam für einen misslungenen Tag schon eine hübsche Summe zusammen.
Ich wartete, bis sie auf die Hauptstraße eingebogen waren. Dann lief ich langsam um das Haus herum. Es war mir schon so vertraut, als hätte ich ein paar Jahre hier verbracht. Sie hatten keinen Brief hinterlassen, keinen Zettel an die Tür geklebt. Das hieß, dass sie auf das Moment der Überraschung setzten und wiederkommen würden. Vielleicht heute noch, am Nachmittag, nein, ein Mann wie der junge Borger würde keine Lust haben, in dieser für ihn langweiligen Gegend herumzufahren und nach einem Restaurant zu suchen. Mit ein paar Unterschriften wäre ich sie losgeworden; ich hätte ihnen die fünf inländischen und vier ausländischen Fabriken überschrieben, einen Fuhrpark von fünfzig Lastwagen, zwanzig besondere Schokoladenrezepte, die ich noch unter Verschluss hielt, und auch das große Haus mit all den kostbaren Möbeln und Bildern. Aber ich wollte nicht. Einerseits hatte ich zwar keine Ejraft mehr, gegen sie zu kämpfen, andererseits konnte ich auch nicht offen kapitulieren. Mochten sie sich nach meinem Tod über die Trümmer meines Erbes streiten!
Ich kochte mir in der winzigen Küche einen Kaffee. Irgendwie fühlte ich auch einen gewissen Stolz, weil ich den Fischreiher gerettet hatte. Ganz in Gedanken versunken stand ich da, häufte das Kaffeepulver in einen Filter, umihn dann mit heißem Wasser zu übergießen. Doch plötzlich schreckte ich aus meiner Selbstvergessenheit auf. Hatte ich nicht meinen Vater bei einem meiner letzten Besuche so in der Küche gesehen?
Über den Elektroherd gebeugt hatte er dagestanden, mit Altersflecken im Gesicht und zu viel Pomade in seinem spärlichen Haar. Musik lief im Hintergrund, Brahms oder Mahler, etwas anderes hörte er nicht. Ich war ungeduldig gewesen, weil ich von ihm dringend eine Bankvollmacht brauchte, deshalb hatte ich den weiten Weg auf mich genommen, ganz gegen meine Gewohnheit, doch er hatte in aller Seelenruhe zugeschaut, wie das Wasser durch den Filter tropfte, als beobachtete er einen aufwendigen chemischen Versuch oder als erwartete er einen besonders rätselhaften Orakelspruch. Vielleicht hatte er mich auch nur auf die Folter spannen wollen. Später hatte er dann statt über die Erweiterung unserer Fabrik in Aachen über meine tote Mutter geredet. Ich kannte dieses unsägliche Gerede längst. Er war nicht
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