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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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Ferienhaus lag, ohne Telefon, ohne einen Kontakt zu der Welt um mich herum. Nein, dachte ich dann, wenigstens dieser sonderbare Junge weiß, dass ich hier bin.
    Zwischendurch schlief ich ein und erwachte wieder, weil ich durstig war und mein Knie bei jeder kleinsten Bewegungschmerzte. Außerdem hörte ich den Wind. Ein Sturm war aufgekommen und heulte um das Haus, als wollte er es davontragen. Sogar die Kerze auf meinem Nachttisch geriet ins Flackern. Gelegentlich, wenn eine besonders heftige Böe auf das Haus traf, schlugen die Zweige einer großen Birke gegen mein Fenster. Ich hatte Angst, dass es zerbrechen könnte, fühlte mich aber zu schwach, um aufzustehen und die Fensterläden zu schließen.
    Ich begriff immer weniger, wie mein Vater es hier in dieser Einsamkeit ausgehalten hatte, doch vielleicht war er gegen Ende seines Lebens auch auf der Flucht gewesen. Vielleicht waren alte, kranke Menschen wie Tiere, die ein möglichst dunkles Versteck zum Sterben suchten. Mein Vater war der alte Elefant gewesen, der sich beizeiten von der geschäftigen Herde entfernt hatte, um seinen Frieden zu finden.
    Später, als es schon nach Mitternacht sein mochte, legte sich der Sturm, und ich begann die Kälte zu spüren. Sie kroch durch die Ritzen und Fugen und hüllte mich ein, aber vor allem erkannte ich sie an der anderen Art von Stille, die sie mitbrachte. Es war nicht die enge, unheimliche Stille, in der Regen fiel; diese Stille war weit und kristallklar, voller Sternenlicht und lautloser Schatten, und sie sagte jedem, der allein war, dass er es für immer sein würde.

11. Dezember
    Mein Knie sah schlimm aus. Über Nacht hatte die Schwellung eine dunkle bläuliche Färbung angenommen. Mit etwas Glück war es nur ein heftiger Bluterguss, kein Bänderrissoder Bruch. Ich schaffte es mit größter Mühe die Treppe hinunter. Wie ein Hundertjähriger, dem eine schmerzhafte Arthritis in die Knochen geschlichen war, kroch ich Stufe für Stufe in den Wohnraum hinab, um wenigstens einen Kaffee zu kochen und mir eine Dosensuppe aufzuwärmen.
    Ich sehnte mich nach einem Telefon oder wenigstens einem Radio. Den ganzen Vormittag saß ich am Fenster, kühlte mein Knie und hielt nach dem Fischreiher Ausschau. Doch nichts war von ihm zu sehen. Lediglich ein paar kleinere Vögel, Amseln oder Spatzen, zogen gelegentlich vorbei. Die Temperatur schien unter den Nullpunkt gefallen zu sein.
    Der Junge ließ sich auch am Nachmittag nicht blicken.
    Mir machte die Stille zu schaffen. Laut sprach ich den Anfang eines Briefes vor mich hin, den ich Ira schreiben wollte. »Liebe Ira, ich sende dir einen Weihnachtsgruß von dem alten Haus am See. Ich bin so allein wie noch nie in meinem Leben. Heute habe ich den ganzen Tag damit verbracht, auf einen Fischreiher zu warten, der anscheinend hier gestrandet ist. Aber der Fischreiher hat sich nirgends gezeigt. Ich war beinahe enttäuscht. Um mich ist nichts als Stille. Sie ist wie ein viel zu großer, dreidimensionaler Raum, in dem ich mich bewege; nein, sie ist wie ein weitläufiges Museum, in dem nur wenige Bilder hängen, Bilder von dir und mir …«
    Irgendwann verirrten sich meine Worte. Nein, so redete ich eigentlich nicht. Wie ein törichter Schauspieler kam ich mir vor, der sich die Tragik seines eigenen Lebens vorspielte. Als es schon dunkel wurde, das wenige Licht des Tages längst vorbeigezogen war, erinnerte ich mich daran, dass mein Vater einen alten Plattenspieler besessen hatte,damit er seinen geliebten Brahms hören konnte. Die hässliche, zerschrammte Musiktruhe, die vor mehr als dreißig Jahren modern gewesen war, hatte jemand ganz in die Ecke gerückt. Wahrscheinlich hatte auch einmal ein Fernsehapparat daraufgestanden. Nun lagen nur noch zerfledderte Rätselhefte und leere braune Blätter wie aus einem vergilbten Malblock da.
    Die Plattensammlung meines Vaters sah arg geplündert aus. Hatte er nicht früher mehr als vierhundert, zum Teil sogar kostbare Schallplatten besessen? Ich wusste es nicht genau. Wahrscheinlich hatte sich der Gärtner kräftig bedient, der sich all die Jahre um das Grundstück hatte kümmern sollen. Oder war der Junge deswegen hier eingedrungen? Um sein Taschengeld damit aufzubessern, dass er gelegentlich eine wertvolle Vinyl-Platte verkaufte? Nein, einem kleinen Jungen traute ich so viel Geschäftssinn nicht zu. Neben Brahms und Mahler fand ich ein paar Jazz-Standards wie Charlie Parker und Peggy Lee, die ich bei meinem Vater nie vermutet hätte. Nichts Heiteres

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