Das Winterkind
allerdings, das meine düstere Stimmung heben würde.
Als ich eine Schallplatte von Frank Sinatra herauszog, segelte mir ein Briefumschlag entgegen. Wie ein kleiner schüchterner Vogel flatterte er aus seinem Versteck, aber lange konnte er da noch nicht gelegen haben, keine zehn Jahre zumindest. Er war so schneeweiß, als hätte ihn erst gestern jemand in einem Geschäft gekauft.
Kein Adressat stand auf dem Umschlag; er war aber ordentlich zugeklebt und enthielt mehrere Blätter, wie ich deutlich fühlen konnte.
Ich humpelte in die Küche, suchte nach einem geeigneten Messer und kehrte zurück. Der Umschlag barg ein Geheimnis, das nichts mit meinem Vater zu tun hatte; soviel stand für mich fest. Vielleicht hatte in den letzten Jahren jemand heimlich dieses Haus benutzt, auch wenn ich nirgendwo persönliche Spuren gefunden hatte.
Die Handschrift, in der die Blätter beschrieben waren, gehörte eindeutig nicht meinem Vater; auch nicht Ira, wie ich für einen Moment beinahe angenommen hatte. Aber wie hätte Ira auch wissen können, dass ich mich hier verstecken würde, um mir dann auch noch ganz kryptisch eine Botschaft zukommen zu lassen?
Liebe H. , stand da in einer winkligen, engen Handschrift, die ich nur mit einiger Mühe und sehr viel Licht entziffern konnte, die Müdigkeit bringt mich um, die Müdigkeit, zu atmen, einen Schritt zu tun, ein Wort auszusprechen. Ich bin so müde, dass ich gar nicht mehr schlafen kann. Nachts schleiche ich hier zu dieser Hütte, damit ich wenigstens dir nicht den Schlaf raube. Dann stehe ich am Fenster, trinke ein paar Gläser und warte, dass es hell wird. Aber wenn die Sonne endlich hervorkommt, habe ich das Gefühl, das Licht gar nicht ertragen zu können. Das Licht brennt Löcher in meine Haut; es tut mir weh, weil ich doch gar nicht hierher gehöre.
Ich habe nie gewusst, wozu das Leben gut ist. Am liebsten würde ich über den Wolken wohnen, mich in den Korb an einem Ballon legen, einschlafen und irgendwo an einem ganz weiten Himmel aufwachen.
Manchmal macht es mir Freude, daran zu denken, wie viel du mir bedeutet hast. Ich war ganz wach und nüchtern und habe deine Haut gerochen, ich habe deine Brust geküsst, ich habe die Sommersprossen auf deinem Rücken gezählt, ich habe auf deine Schritte gelauscht, ich habe den Zorn in deinen Augen gesehen, ich habe dein Flüstern in der Nacht gehört, deinen Gesang … Aber alle Dinge kommen irgendwann an ein Ende.
Während ich das hier schreibe, habe ich nur noch ein glühendesRauschen im Ohr; da höre ich selbst meine eigene Stimme nicht mehr. Ich bin ein Schißbrüchiger; ich hänge an dem letzten Brett, das von meinem Schijf noch übrig geblieben ist, und treibe durch schwarzes Wasser.
Verzeih mir.
Auf den anderen Blättern standen in Großbuchstaben einzelne Wörter, wie bei einem Silbenrätsel, dessen Regeln ich nicht verstand: KAMPF , konnte ich da lesen, und: MOND, GOTT, MUT, NICHTS, SINN, FRIEDEN … So als hätte der unbekannte Schreiber nach einem abschließenden, endgültigen Wort gesucht. Die letzten Worte konnte ich nicht mehr entziffern, oder sie bedeuteten nichts.
Mein Mund war ganz ausgetrocknet, als ich die Blätter beiseite legte. Ich spürte die Kälte wieder. Der elektrische Heizkörper, mit dem das Haus beheizt wurde, war so heiß, dass ich mir beinahe die Finger an ihm verbrannte. Dennoch war die Temperatur deutlich gesunken.
Wer hatte nach dem Tod meines Vaters gelegentlich hier im Haus gelebt? Wem hatte diese graue, abweisende Stille so in den Ohren geklungen wie jetzt mir? Eigentlich konnte es nur jemand aus dem Dorf gewesen sein.
Ich nahm die Platte von Frank Sinatra, legte sie auf den Plattenteller und setzte den Tonarm auf. Obwohl er nie zu meinen Lieblingssängern gehört hatte, genoss ich, wie seine wohlklingende Stimme das Haus durchdrang und es für sich vereinnahmte. Ja, seine Stimme machte das Haus wohnlicher und mich nicht ganz so einsam. Während Frank Sinatra sang, begann ich nach Spuren im Haus zu suchen, auch wenn mein Knie bei der kleinsten Bewegung schmerzte. Ich nahm jede einzelne Schallplatte heraus, versuchtesogar die Möbel abzurücken, aber außer einem alten Kalender und einem Zeitungsausschnitt fand ich nichts.
Der Ausschnitt stammte aus dem Jahre 1991. In einem langen Artikel wurde von dem Brand in der Dorfkirche berichtet. Offenbar hatte es mitten in der Nacht einen Kurzschluss in der Sakristei gegeben. Innerhalb von wenigen Minuten hatte die Kirche in Flammen gestanden.
Weitere Kostenlose Bücher