Das Winterkind
Dorf. Ich humpelte bis zu der Hotelpension und bestellte mir ein üppiges Frühstück mit Wurst und Schinken. Hinterher trank ich noch eine heiße Schokolade, eine alte Gewohnheit; jeden Tag hatte mir meine Sekretärin am Nachmittag eine Tasse Schokolade bringen müssen. Die beiden Serviererinnen, junge, eher scheue Mädchen, die hier aus der Gegendstammten, behandelten mich freundlich, sie fragten mich sogar, wie ich mich im Haus meines Vaters fühlte und ob ich noch länger bleiben würde. Ich war so gerührt von ihrer Anteilnahme, dass ich ein ordentliches Trinkgeld gab und fünf Ansichtskarten kaufte, die den See zu verschiedenen Jahreszeiten zeigten.
Auf dem Rückweg ging ich am See entlang. Ich entdeckte den Fischreiher wieder. Auch er schien das klare Blau des Himmels zu genießen. Im Schilf hatten sich die ersten kleinen Eisflächen gebildet. Wenn das Wetter nicht umschlug, würde der See bald zufrieren.
Dann, während ich noch dem Fischreiher zusah, wie er seine Kreise flog, bemerkte ich das Boot. Die rothaarige Frau saß wieder mit einem Buch da und winkte mir zu. Ich winkte zurück, ein wenig zu überschwänglich, wie mir in der nächsten Sekunde auffiel. Trotz der Kälte setzte ich mich auf die einzig verbliebene Bank. Ein paar Enten kamen heran, wohl in der Hoffnung, dass ich ein paar Krumen Brot für sie dabei hatte, und der Fischreiher segelte herab und landete wieder auf dem Steg. Er warf einen großen, rötlich schimmernden, glänzenden Fisch vor sich auf die Holzplanken, der sogleich panisch herumsprang, um sich wieder ins Wasser zu retten – aber vergeblich. Der Vogel versetzte dem verzweifelten Fisch mit seinem Schnabel einen leichten Stoß und begann an ihm herumzupicken. Er verhielt sich beinahe wie eine Katze, die mit einer Maus spielte, bevor sie sie auffraß.
Als ich wieder auf den See blickte, sah ich, dass die rothaarige Frau mit kräftigen Stößen heranruderte. Das Boot glitt den schmalen Strand hinauf. Sie wandte sich um und winkte mir noch einmal zu.
Ich hatte keine Ahnung, was sie vorhatte, und kam mirsogar ertappt vor, als hätte ich etwas Verbotenes getan. Solch ein Gefühl hatte ich lange nicht gehabt.
»Kommen Sie!«, rief die Orgelspielerin. »Fahren Sie mit mir auf den See hinaus!« Ihre Haare glänzten, als wären sie gar nicht echt.
Ich hob die Hände und wusste nicht, was ich tun sollte. Eine Bootspartie in einem winzigen, wackligen Kahn war in meinem Zustand das Letzte, was ich mir vorstellen konnte. Doch dann fiel mir der Junge ein. Ich musste mit der Frau über ihren Sohn reden.
Die Orgelspielerin richtete sich in ihrem Boot auf. Sie trug einen roten Schal und wieder ihre lange, schwarze Lederjacke und sah überhaupt nicht wie eine Einheimische aus.
Ich erhob mich. »Ich weiß nicht«, sagte ich, während ich die paar Schritte zu dem schmalen Strand hinunterging. »Ich bin eigentlich zu alt für solche Dinge.«
Die Frau schaute mich an. »Unsinn, Sie sind nicht zu alt«, sagte sie mit ernster Stimme. »Leisten Sie mir ein wenig Gesellschaft.«
Sie nahm meinen Arm und half mir ins Boot. Ich spürte einen heftigen, schmerzhaften Stich, der mir durch den ganzen Körper fuhr, als ich den rechten Fuß auf die Holzplanken setzte; es gelang mir aber, nicht das Gesicht zu verziehen.
»Ich hoffe, Sie können schwimmen«, sagte die Frau, ohne dass ich an ihrem Tonfall erkennen konnte, ob sie sich einen harmlosen Scherz erlauben wollte, und stieß uns mit einem Ruder vom Ufer ab.
Der Fischreiher war verschwunden. Ich suchte den Himmel nach ihm ab, um die Frau vor mir nicht ansehen zu müssen, konnte ihn jedoch nirgends ausfindig machen.
Auf dem See war es noch kälter. Winzige Wellen spülten um das Boot. Das Wasser schimmerte grünlich, und einmal funkelte etwas auf, das vielleicht ein silberner Fisch gewesen war.
»Sie reden wohl nicht viel«, sagte die Frau zwischen zwei Ruderschlägen. »Fast könnten Sie schon zu den Einheimischen gehören.« Ich schaute sie an. Sie ruderte mit leichten, eleganten Bewegungen. So aus der Nähe betrachtet, war sie immer noch schön, wirkte aber älter, mit spitzen Falten um die Augen und unendlich vielen Sommersprossen.
»Ja«, erwiderte ich. »Manchmal kann ich ziemlich schweigsam sein.«
Als die Frau mit einem Schlag aussetzte, geriet das Boot ein wenig ins Schwanken. Zwei Haubentaucher ließen sich träge an uns vorbeitreiben. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass auch die Orgelspielerin etwas vorhatte, dass sie mich nicht ohne
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