Das Winterkind
Grund in ihr Boot eingeladen hatte.
Die Frau beugte sich vor und streckte mir ihre Hand entgegen. »Wie unhöflich von mir … Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, sagte sie. »Mein Name ist Hedda.«
Wir lächelten uns an. Ich wusste, dass ich etwas erwidern musste, ein paar freundliche, unverbindliche Worte. Eigentlich sollte mir das nicht schwer fallen. Ich hatte in meinem Leben viele Reden halten müssen, doch nun fiel mit keine Entgegnung ein; vielleicht war ich schon zu lange allein.
»Ich habe neulich zugehört, wie Sie Orgel gespielt haben«, sagte ich schließlich, obschon sie mich ja gesehen hatte. Wie ein Kompliment klang meine Bemerkung auch nicht, eher, als hätte mir ihr Spiel nicht gefallen.
»O ja, ich spiele manchmal, um nicht aus der Übung zukommen.« Hedda lächelte ein wenig verlegen. Sie ließ die Ruder los und hielt ihre rechte Hand ins Wasser.
Mein Blick fiel auf das Buch, das neben ihr auf der Ruderbank lag. Was hätte ich ihr als Lektüre zugetraut? Irgendeinen belanglosen Roman wahrscheinlich oder einen Erziehungsratgeber, der ihr Hinweise gab, wie sie besser mit ihrem Sohn zurechtkam, doch sie hatte in der Bibel gelesen und sich sogar Notizen gemacht. Viele kleine gelbe Zettel steckten in dem Buch.
Eine seltsame Ahnung überkam mich. »Sie sind gar nicht die Organistin der Kirche?«
»Aber nein!« Hedda lachte wieder; diesmal klang es ehrlicher und befreiter. »Ich bin die Pastorin. Schon seit mehr als zehn Jahren.« Sie nahm die Ruder und tauchte sie scheinbar mühelos wieder ins Wasser. Wir waren mittlerweile schon ein gutes Stück vom Ufer entfernt. »Auf dem See finde ich die Ruhe, die ich brauche, um meine Predigten vorzubereiten. Ich komme oft hierher. Was hat Sie zu uns in diese abgelegene Gegend verschlagen?«
Neugier lag in ihrer Stimme, aber noch etwas anderes, das mir nicht gefiel. Vielleicht war es eine deutliche Spur Mitleid, weil sie doch die Nachrichten über mein Scheitern, den Untergang des erfolgreichen Unternehmers Ludwig Graf, gesehen haben musste. Ich spürte die beißende Kälte wieder und dachte, dass es ein Fehler gewesen war, zu ihr ins Boot zu steigen. Möglicherweise hatten die Dorfbewohner ihre Pastorin auch als Spionin vorgeschickt, um herauszufinden, was ich vorhatte.
»Ich will eine Weile ausspannen«, sagte ich, »bevor ich mich neuen Geschäften zuwende.« Ich war mir beinahe sicher, dass sie meine Lüge sofort durchschaute. Allzu überzeugend konnte es nicht klingen, wenn ein unrasierter,humpelnder Mann, der sich zu einer Fremden ins Boot setzte, von neuen Geschäften redete.
»Dann haben Sie nicht vor, länger im Dorf zu bleiben? Sie sind auf der Durchreise?«
»Gewissermaßen.« Das Wort »Durchreise« gefiel mir. »Aber bis Weihnachten bleibe ich noch.«
Hedda lächelte wieder und nickte. Ich sah, dass ihre Augen fast die Farbe des Wassers hatten. »Sie sollten einmal in die Kirche kommen. Nicht nur zu einem heimlichen Orgelkonzert.« Sie hörte wieder auf zu rudern, schloss stattdessen die Augen und legte den Kopf zurück.
Wir schwiegen wieder; es war ein seltsames Schweigen, nicht direkt unbehaglich, sondern voller Unruhe, als würde jeder von uns viel zu viele schwere Gedanken haben. Früher wäre mir so etwas nicht passiert; da hätte ich gleich ein paar amüsante Geschichten erzählt, von meinen ersten Ferien am See mit meinem Vater, dass ich hier mein erstes Mädchen verführt hatte, etwas in dieser Art.
»Ich habe Ihren Jungen getroffen«, sagte ich endlich. Darum war ich in ihr Boot gestiegen. Ich wollte wissen, warum der Junge mich verfolgte und wer ihm den Schlüssel gegeben hatte. »Ich glaube, er ist mir eine Weile nachgelaufen.«
Hedda schlug abrupt die Augen auf und musterte mich. Ich sah plötzlich ihr Gesicht vor mir, den Schrecken in ihren Augen, als ihr Sohn neulich abends die Vase genommen und ohne jede Regung einfach fallen gelassen hatte.
»Mark macht mir Kummer.« Sie schien zu glauben, mir eine Erklärung schuldig zu sein. »Seit er seinen Vater verloren hat, spricht er kaum noch. Er ist erst elf, aber meistens habe ich keine Ahnung, was er fühlt und denkt. Er schleicht aus dem Haus und läuft zum See, um …«
Ein lauter Knall scheuchte die Enten am Ufer auf, die sich mit aufgeregtem Geschnatter erhoben. Dann ertönte ein zweiter, genauso dröhnender Knall. Es klang wie die Fehlzündung eines altersschwachen Autos, ich wusste jedoch sofort, dass es sich um Schüsse handelte.
»Er schießt wieder«, sagte
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