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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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unfreundliches Verhalten entschuldigen wollte. »Sie warten erst einmal ab, gehen nicht gleich auf einen Fremden zu. Daran muss man sich gewöhnen. Aber eigentlich sind die Menschen hier herzensgut.«
    Dann zuckte sie die Achseln, und für einen Moment glaubte ich zu ahnen, was sie nun, da anscheinend keine Gefahr mehr von mir ausging, in mir sah: einen unglücklichen Mann, der sich hierher in ihr stilles, winziges Dorf geflüchtet hatte.
    Ich wurde zornig. Auch wenn ich mich selbst so sah, hatten andere kein Recht dazu. Nichts war entwürdigender als seichtes, aufdringliches Mitleid. Hastig richtete ichmich auf und machte einen ersten, vorsichtigen Schritt aus der Bank heraus, an der Orgelspielerin vorbei, die einen halben Schritt zurückwich. Mein Knie schmerzte, doch ich verzog keine Miene. Sie schaute mich an. Ihre Augen sahen aus wie zwei Perlen, die ganz aus Jade waren.
    »Ich muss gehen«, sagte ich recht laut. »Man erwartet mich zurück.«
    Die Frau lächelte. Ich war sicher, dass sie meine Lüge durchschaute. Wer trieb sich schon in einer Kirche herum, wenn er es eilig hatte?
    »Wenn Sie mögen«, sagte sie nun ganz versöhnlich, »kommen Sie in den nächsten Tagen vorbei. Wir könnten einen Tee zusammen trinken.«
    An der Kirchentür drehte ich mich noch einmal herum. Mein Zorn war schon wieder halb verraucht. Nun war der letzte Augenblick, um vielleicht doch noch den Schlüssel hervorzuziehen und über ihren Sohn zu reden: Ihr Junge verfolgt mich, er ist in mein Haus eingedrungen … er lässt mir keine ruhige Minute mehr.
    Die Frau hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Sie hielt die beiden gelben Gummihandschuhe in einer Hand, und mit der anderen, der Linken, machte sie plötzlich eine Geste, als wollte sie mich segnen. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein, als wäre sie eine böse Zauberin und als könnte ein gefährlicher Funkenstrahl aus ihren Händen sprühen. Dann humpelte ich auf die Straße hinaus.
    Die Zeit ist eine Betrügerin, sie fuhrt die Menschen an der Nase herum, wirft ihr Netz der Täuschung über sie. Ich hatte fünf Ministerpräsidenten und zwei Bundeskanzlern die Hand geschüttelt. Ein Bundespräsident war in meiner Fabrik zu Gast, und man hatte mir drei Orden verliehen;ich hatte unzählige Leute eingestellt und manche auch wieder entlassen. Und doch kam es mir oft so vor, von einer Sekunde auf die andere, mit einer plötzlichen Kopf bewegung, als sei ich immer noch der siebzehnjährige Junge, der jeden Morgen darüber nachdachte, wie er die Schule schwänzen konnte.
    Als ich die lange Teerstraße entlanghumpelte, hatte ich wieder das Gefühl, als sei die Zeit stehen geblieben, obwohl mein Körper mich eher daran erinnern wollte, dass ich mittlerweile ein älterer Herr war, der seine besten Jahre schon gesehen hatte. Ich erinnerte mich plötzlich an einen Sommer vor sechsunddreißig Jahren. Die Straße war damals noch ein unbefestigter Feldweg gewesen, auch elektrischen Strom hatte es in den wenigen Ferienhäusern noch nicht gegeben. Ich hatte meinen Vater angelogen und ihm etwas von einem Klassenausflug nach Hamburg erzählt. Da meine Mutter schon vier Jahre tot war und er sich nicht um die Schule kümmerte, war ich sicher, dass meine Lüge nicht auffallen würde. Auch Barbara, meine erste Freundin, hatte ich zu einer Lüge überredet. Angeblich wollte sie das Wochenende bei ihrer älteren Schwester verbringen, die seit kurzem in Münster studierte.
    Hand in Hand liefen wir den weiten Weg vom Bahnhof zum Haus hinunter. Mit jedem Schritt wurden wir schweigsamer, bis wir schließlich gar nichts mehr sagten.
    Noch immer spüre ich den leichten Druck ihrer Hand. Noch immer sehe ich ihr Gesicht neben mir, ihr halblanges blondes Haar, das sie meistens zusammengebunden trug. Sie war hübsch, nur ihre Nase wirkte ein wenig zu groß geraten. Barbara war eine begabte Schwimmerin. Gelegentlich hatte ich ihr beim Training zugesehen. Sie war zäh und ausdauernd, auch wenn sie im Vergleich zuden anderen Schwimmerinnen von viel kleinerer Statur war.
    Schweigsam richteten wir uns im Haus ein, packten unsere Vorräte aus und machten uns etwas zu essen. Wir hatten so viel Angst, dass uns jemand sehen könnte, dass wir uns kaum zum See trauten. Wir nahmen nur ein kurzes Bad, lachten und balgten für eine Weile, weil wir eine besonders abgeschiedene Stelle gefunden hatten, und schlichen dann zum Haus zurück. Schließlich wurde es Nacht. Wir verloren unsere Sprache wieder, verständigten uns nur mit

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