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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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einen Brief schreiben und mit dem jungen Borger reden, um ihm seinen Job als Nachlassverwalter nicht so schwer zu machen? Dann fiel mir plötzlich ein, wer allerWahrscheinlichkeit nach meine Leiche finden würde: der Junge oder seine Mutter. Der Pastorin war es zuzutrauen, dass sie mir, einem neuen, einsamen Gemeindemitglied, am Weihnachtsabend einen überraschenden Besuch abstattete.
    Draußen wurde es schon wieder dunkel. Eine kalte, sternenklare Nacht zog herauf. Ich spürte einen unangenehmen kühlen Luftzug, der durch das zertrümmerte Fenster in der Tür hereinwehte. Die Pappe war nur ein unzureichender Ersatz für eine Glasscheibe. Ich hatte vergessen, einen Glaser zu beauftragen, aber noch einmal ins Dorf zu gehen wäre eine viel zu große Anstrengung gewesen. Also hängte ich nur eine alte Decke vor das Fenster.
    Der Junge hatte seinen Vater verloren, hatte Hedda gesagt, aber was bedeutete das? Hatte er die Familie verlassen, war Zigaretten holen gegangen und nie wieder heimgekehrt? Oder war er tot? Bei einem Autounfall gestorben, einem plötzlichen Herzinfarkt erlegen oder als heldenhafter Feuerwehrmann mitten in einem Einsatz tragisch ums Leben gekommen? Ich konnte mir nur mit Mühe vorstellen, welch eine Art Mann die Pastorin geheiratet haben mochte. Einen unkonventionellen Lehrer vielleicht, der in der nächsten Kreisstadt an einem Gymnasium unterrichtete, oder ebenfalls einen Geistlichen, der sich eine Stelle mit ihr geteilt hatte, aber gewiss keinen Geschäftsmann. So jemand würde sich nicht hier, in diesem einsamen Landstrich niederlassen.
    Allmählich kehrte eine wohl tuende Wärme in meinen Körper zurück. Ich saß in eine Decke gehüllt da und wurde schläfrig. Für ein paar Stunden Schlaf war es allerdings noch zu früh. Als ich zur Musiktruhe meines Vaters humpelte, um eine Sinfonie von Brahms aufzulegen, fiel mir derweiße Umschlag mit dem sonderbaren Brief wieder in die Hände. Ich las die wenigen Zeilen noch einmal. Der Tonfall verriet die Trauer und Melancholie eines Abschieds. Dann fiel mein Blick auf die Anrede. Liebe H. Ein Gedanke, der mich schon erschreckte, bevor ich ihn ganz zu Ende gedacht hatte, ging mir plötzlich durch den Kopf. Wie viele Frauennamen gab es, die mit dem Buchstaben H anfingen? Hildegard, Hanna, Helga, Hannelore … Hedda. War der Brief ein Abschiedsbrief, den ihr Mann in dem verlassenen Ferienhaus meines Vaters hinterlegt und den niemand bisher gefunden hatte? Aber warum ausgerechnet hier? Und was konnte der Junge damit zu tun haben? Schlich er deshalb um das Haus, weil hier sein Vater zuletzt gewesen war?
    Ich wurde so aufgeregt, dass ich versuchte, mich anzuziehen und das Haus zu verlassen, doch mein Knie schmerzte bei jeder kleinsten Bewegung. Es war sinnlos. Nur wenn Ochs, mein schweigsamer Chauffeur, vorgefahren wäre oder wenn ich ein Taxi hätte rufen können, wäre es mir noch möglich gewesen, ins Dorf zu gelangen. Ich musste bis morgen warten. Wahrscheinlich waren die Wege schon überfroren und spiegelglatt.

14. Dezember
    Mitten in der Nacht wachte ich von einem lauten, einzelnen Schrei auf. Der Schrei bohrte sich tief in meinen Schlaf. Möglicherweise hatte ich selbst geschrien, oder aber ich hatte im Traum den Schrei meines Sohnes gehört, wie er mitten im Spiel in den Zaun gestürzt war und sichso schwer verletzt hatte, dass niemand ihn retten konnte. In den Wochen nach Martins Tod war ich in jeder Nacht durch diesen furchtbaren Schrei aus dem Schlaf gerissen worden, dann jedoch nie wieder, als wäre ich im Schlaf taub geworden. In meinen Träumen existierten keine Geräusche mehr. Ich hatte plötzlich Sehnsucht nach meinem kleinen Sohn, der jetzt schon längst ein erwachsener Mann gewesen wäre. Dann dachte ich an den Jungen aus dem Dorf. Vielleicht war es auch sein Schrei gewesen, den ich in der klaren, weiten Stille der Nacht gehört hatte. Nein, das war Unfug. Das Haus des Jungen lag viel zu weit entfernt, außerdem hatte er keinen Grund zu schreien; er lag wohl behütet in seinem Bett.
    Ich fand keinen Weg zurück in den Schlaf, auch wenn ich es mir wünschte. Obwohl es unangenehm kalt war, zog ich mich schließlich an und ging in den Wohnraum hinunter. Früher hatte ich häufiger solche Attacken der Schlaflosigkeit gehabt und war dann in mein Büro gefahren, um vollkommen ungestört zu arbeiten. Die besten Pläne hatte ich in solchen Nächten entworfen. Doch nun spürte ich statt Tatkraft nur Leere in mir. Ich setzte mich an den Tisch und saß

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