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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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Blicken. Barbaras Augen waren beinahe schwarz, wie zwei kleine, runde Knöpfe. Solche Augen habe ich später nie wieder gesehen. Ich legte eine Schallplatte auf den Plattenspieler; die Beatles wahrscheinlich; etwas anderes hörten wir damals nicht.
    Als ich Barbara umarmte, spürte ich, wie ihr Herz schlug. Noch nie war ich einem Menschen so nahe gekommen, dass ich sein Herz gespürt hatte. Auch ihr Geruch war so anders als alles, was ich bisher wahrgenommen hatte. Die einzigen Frauen, die in den letzten Jahren um mich gewesen waren, die beiden Hausangestellten meines Vaters, hatten nach Küche und Bohnerwachs gerochen. Doch Barbara hatte den Geruch einer jungen, zarten Blume an sich.
    Wir zogen uns im Dunkeln aus, eine umständliche, langwierige Prozedur, weil wir so unsicher und schüchtern waren. Die Musik hatte auch längst aufgehört zu spielen. Nichts war zu hören als unsere heftigen, unregelmäßigen Atemzüge. Das Bett, zu dem ich Barbara durch die Dunkelheit lotste, roch so sehr nach meinem Vater, dass ich vor Scham beinahe das Atmen vergaß. Sogar seinen zerknitterten Schlafanzug fand ich noch unter dem feuchten,muffigen Kopfkissen. Ich ärgerte mich. Ich hatte nichts richtig vorbereitet.
    Am nächsten Morgen erwachte ich in aller Frühe, weil die Vögel vor dem offenen Fenster krakeelten. Barbara war verschwunden. Ich lag allein auf einem blutigen Laken. Während ich das Laken auswusch, machte ich mir jede Menge Vorwürfe. Hatte ich sie zu grob behandelt? Hatte ich sie an den falschen Stellen berührt und ihr die falschen Worte ins Ohr geflüstert? Ich hatte keine Ahnung. Insgeheim fürchtete ich, sie könnte zum Bahnhof gelaufen sein, um nach Hause zu fahren und ihren Eltern alles zu gestehen. Sogar der wirre Gedanke, dass ich sie nun heiraten müsste, kam mir. Barbara kehrte erst eine Stunde später vom See zurück. Bleich und zerbrechlich sah sie aus, und zum ersten Mal hatte ich wirklich das Gefühl, sie zu lieben. Ich würde ihr Geschenke machen, Blumen oder Schallplatten, wenn sie wollte. All das war nicht nur aus Neugier passiert. Ich versuchte sie in den Arm zu nehmen, doch sie schüttelte mich ab. »Ich möchte zurück«, sagte sie, ohne mich anzuschauen.
    Ich wurde so wütend, dass ich sie am liebsten geschlagen hätte. Stattdessen packte ich unsere Sachen zusammen und rannte mit ihr zum Bahnhof. Was hatte ich ihr getan, dass sie mich so behandelte? Auch während der ganzen langen Rückfahrt hatten wir kein Wort geredet, aber es war ein ganzes anderes Schweigen als am Tag zuvor. Bleiern lag es auf uns. Ein paarmal noch hatten wir uns später getroffen, eher aus Gewohnheit denn aus echtem Interesse, doch nie hatte Barbara mir erklärt, was sie an unserer gemeinsamen Nacht so erschreckt hatte, und ich hatte nie gewagt, ihr auch nur eine Frage zu stellen. Sie war so totenstill gewesen, als ich mich über sie gebeugt hatte und insie eingedrungen war. Hatte ich ihr wehgetan, oder war es der Geruch meines Vaters gewesen, der sie gelähmt und verängstigt hatte?
    Danach hatte ich niemals wieder ein Mädchen mit in das Haus am See genommen. Nicht einmal mit Ira war ich allein hierher gefahren.
    Mein Knie schmerzte so sehr, dass ich kaum noch einen Schritt tun konnte. Noch nie hatte ich mich so sehr danach gesehnt, zum Haus zurückzukehren. Die Kälte kroch mir in Hände und Füße; die Luft roch nach Schnee. Aber wenn es hier richtig schneite, würde sich zumindest der junge Borger eine Weile nicht sehen lassen.
    Erst als ich die Haustür schon aufgeschlossen hatte, bemerkte ich das Loch in der Scheibe. Jemand hatte das kleine Fenster in der Tür eingeschlagen. Es war fünf Minuten nach ein Uhr. Der erste Schulbus war vor einer Stunde ins Dorf zurückgekommen. Ich musste nicht lange nachdenken, wer mein Fenster demoliert hatte. Der Junge beschränkte sich nun anscheinend nicht mehr darauf, mir hinterher zu schleichen. Er wollte mich vertreiben, aber warum? Hatte er in dem Haus irgend etwas versteckt, an das er nicht mehr herankommen konnte? Wenn er ein paar Jahre älter gewesen wäre, hätte ich an Drogen oder Diebesgut denken können, aber so konnte ich mir keine Erklärung zusammenreimen.
    Das Haus war schon mächtig ausgekühlt. Also musste ich mich sofort daran machen, das zerbrochene Fenster abzudichten, ohne mich auszuruhen. Zum Glück fand ich einen dicken Karton, den ich mit einem Teppichmesser zu-rechtschneiden und vor die verbliebenen Scherben setzen konnte. Das würde die Kälte immerhin ein

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