Das Winterkind
ich und suchte voller Unruhe den Himmel ab. »Offenbar gibt es hier jemanden, der es auf den Fischreiher abgesehen hat.«
Panisch blickte Hedda sich um. Ein dritter Schuss zerriss die Stille, und dann begann sie loszurudern, als hätte sie einen Ertrinkenden im See entdeckt, den sie retten müsste. Sie peitschte die Ruder so heftig durch das Wasser, dass unser Boot schwer ins Schwanken geriet. Auf dem Steg war eine Gestalt auszumachen, die in gelbes Ölzeug gekleidet war. Es handelte sich eindeutig um denselben Schützen wie vor drei Tagen.
Hedda keuchte und zerrte an den Rudern. Sie starrte an mir vorbei, als wäre ich gar nicht mehr da, und dann drehte sie sich plötzlich um und rief: »Hör auf! Lass den Unsinn sein … Du bringst dich nur in Schwierigkeiten!«
Die Gestalt auf dem Steg wandte sich in unsere Richtung. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als wären wir ins Visier geraten, als würde der Schütze auf uns anlegen und abdrücken, um zwei unliebsame Zeugen loszuwerden, doch dann riss er sein Gewehr herum und lief genauso ungelenk, wie ich es beim letzten Mal beobachtet hatte, den Steg hinunter.
»Kennen Sie den Schützen?«, fragte ich. Mein Herzschlag hatte sich ungesund beschleunigt.
»Nein«, erwiderte Hedda keuchend. Sie ließ nicht nach in ihren Bemühungen, möglichst schnell an Land zu kommen. »Ich habe keine Ahnung.«
Ich war mir sicher, dass sie log. Sie wusste genau, wer da wild um sich schoß und versuchte, den Fischreiher zu erlegen. Vielleicht jedoch fiel dieses Wissen unter ihre Schweigepflicht als Geistliche.
Wasser spritzte in unser Boot, als sie die Ruder heftig ins Wasser stieß, aber das schien sie nicht zu stören. Ich suchte das Ufer nach dem Fischreiher ab. Hatte der Schütze ihn irgendwo im Schilf erwischt? Nein, nirgends war der Umriss eines toten Vogels in dem dichten braunen Gestrüpp zu entdecken. Die Enten hatten ihren Schrecken schon wieder überwunden und schwammen in aller Ruhe zum Ufer zurück.
Die Pastorin machte ein abwesendes, angestrengtes Gesicht. Eine Ader an ihrem Hals begann zu pochen. Dieses wilde Pochen hatte ich schon einmal an ihr beobachtet. Ich fror und war klatschnass, als wir am Steg anlegten. Auch ihre zerlesene Bibel hatte eine heftige Dusche abbekommen.
»Tut mir Leid, dass unsere Bootspartie so missglückt ist«, sagte die Pastorin, während sie das Boot vertäute. Sie bedachte mich mit einem letzten Lächeln, dann nahm sie ihre Bibel und sprang auf den Steg, um dem Schützen nachzueilen, der doch längst verschwunden sein musste. Ich sah ihr eine Weile nach, bevor ich mich erhob und mühsam aus dem Boot kletterte. Hedda schien mit ihrem merkwürdigen Sohn etliche Gemeinsamkeiten zu haben.
Man kann sich auf viele Arten umbringen, mit einem Giftcocktail, mit einem Sprung von einer Brücke, mit einem genauen Schnitt in die Pulsadern oder einem gezielten Schuss in den Kopf …
Ich stand wieder vor dem Herd und schaute zu, wie dasWasser zu sieden begann. Das Wichtigste am Tod ist, dass er schnell und möglichst schmerzfrei eintritt, keine Quälerei über Wochen und Monaten wie bei Menschen, die sich langsam zu Tode hungern oder sich mit Drogen selbst vernichten. Für solche Menschen ist der Tod eine Art Selbstbestramng und nicht die Rettung, die er eigentlich sein soll. Ich versuchte, keine Angst vor dem Tod zu haben. Warum sollte man sich vor dem Nichts fürchten? Sterbende, so heißt es, sehen niemals unglücklich aus. Selbst über das Gesicht meines Vaters hatte sich ein geheimer Frieden gelegt, als ich ihn drei Tage nach seinem Tod sah. Alles Grobe und Furchterregende war aus seinen Zügen verschwunden; er sah aus, als hätte sich hinter seinem bekannten Gesicht immer ein anderes, viel feineres befunden, das er sein Leben lang versteckt hatte und das nun endlich zum Vorschein kam. Fast eintausend Trauergäste nahmen an seiner Bestattung teil. Bei mir würden es ein paar weniger sein.
Der Weg zurück zum Haus war ein Martyrium geworden. In meinen nassen Kleidern hatte ich regelrecht Schüttelfrost bekommen, und auch meinem Knie hatte der Bootsausflug nicht gut getan. Es war wieder angeschwollen.
Ich schüttete das Pulver ins kochende Wasser und wartete, bis es sich ausgebreitet hatte. Nach drei, vier Minuten goss ich das Gebräu in eine Tasse. Ich spürte, wie die heiße Flüssigkeit meine Kehle hinunterrann. Ich musste meine letzten Tage planen, minutiös die Dinge durchgehen, die ich noch zu erledigen hatte. Sollte ich Ira doch noch
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