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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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wenig abhalten.
    Mein Erschöpfung war schließlich so groß, dass ich auf dem Stuhl einschlief. Ich träumte davon, in einem Wasser zu treiben, das so kalt war, dass es meinen ganzen Körper in einen langen, gleichmäßigen Schmerz einhüllte. Das Wasser war endlos, aber ich würde nicht sofort untergehen, sondern noch eine ganze Weile umhertreiben.
    Als ich wieder erwachte, lag der Wohnraum fast schon in völliger Dunkelheit. Der Rest Licht vor dem Fenster zog sich wie eine letzte, müde Welle zurück. Es mochte halb fünf sein.
    Das elektrische Licht, das grell aufflammte, zeigte mir zuerst die Trümmer im Raum: die Tasse, den gläsernen Aschenbecher, die gelbe Vase, die ich vor zwei Tagen zerschlagen und noch nicht beiseite geräumt hatte. Auch die Glasscherben an der Tür konnte ich von meinem Stuhl aus sehen.
    Es dauerte eine volle Stunde, bis ich alles wieder aufgeräumt hatte. Wenn ich ehrlich war, lauschte ich die ganze Zeit auf ein Geräusch. Der Junge, dachte ich wie an eine drohende Gefahr, er würde wieder auftauchen. Ich hätte mit seiner Mutter reden müssen oder vielleicht sogar mit seinem Vater, dem Dorfpfarrer. Die Mutter war offenbar zu schwach, um dem Jungen Einhalt zu gebieten.
    Einmal glaubte ich sogar, ein schmales, bleiches Gesicht am Fenster zu sehen. Doch wahrscheinlich hatte ich es mir nur eingebildet.
    Ich musste mich wappnen, ein Mobiltelefon besorgen und eine neue Glasscheibe in der Tür einsetzen lassen, doch dann fiel mir ein, warum ich überhaupt hier herausgekommen war. Ich hatte noch zwölf Tage, wenn ich mich an meinen eigenen Plan hielt. Zwölf Tage, in denen ich ein wenig in meinem Leben aufräumen oder einfach garnichts tun konnte. Ich hatte so viel getan in meinem Leben, jeden Tag zwölf Stunden gearbeitet, um Schokolade zu verkaufen. Darauf war es hinausgelaufen; ja, wenn ich es recht bedachte, war es eigentlich nur darum gegangen, Unmengen von Pralinen, Konfekt, Schokoladenriegel herzustellen und zu verkaufen.
    Plötzlich musste ich an eines der letzten Gespräche denken, das ich mit meinem Vater geführt hatte. Mitten in der Nacht hatte er mich aus dem Dorf angerufen. Er musste also, weil er im Haus keinen Telefonanschluss haben wollte, senil und krebskrank, wie er war, den langen Weg zur Telefonzelle am Kirchplatz gelaufen sein. Ich hatte nie darüber nachgedacht. Er wollte nur über meine Mutter reden.
    »Ich habe sie nicht getötet«, krächzte er heiser in den Telefonhörer hinein, und auf diese Weise erfuhr ich fast dreißig Jahre nach ihrem Tod von einem dunklen Familiengeheimnis. Die jüngste Schwester meiner Mutter, die ich nur wenige Male zu Gesicht bekommen hatte und deren Name mir nicht einmal mehr einfiel, hatte ihn angeklagt, er habe seine Frau erstickt. Er habe ihr im Schlaf ein Kissen auf das Gesicht gedrückt, weil er sie loswerden wollte, weil ihm ihre Pflege längst lästig geworden sei. Es war sogar zu einer förmlichen Anklage gekommen, die aber zu nichts geführt hatte.
    »Deine Mutter ist am Krebs erstickt«, hauchte mein Vater ins Telefon. »Ich hätte doch alles für sie getan.« Er sprach von ihr wie von einem Menschen, der vor ein paar Momenten noch bei ihm gewesen war. Aber vielleicht war das auch so; vielleicht hatte mein Vater immer das Gefühl gehabt, meine Mutter wäre gerade, vor wenigen Minuten aus dem Zimmer gegangen und würde im nächsten Augenblick zurückkehren.
    »Nachts bin ich alle zwei Stunden aufgestanden und habe ihr zu trinken gegeben«, flüsterte er heiser, »weil sie doch nichts mehr trinken wollte, und dann habe ich ihre Hand genommen, ihre winzige, kalte Hand, und einmal habe ich ihr sogar Lieder von den Comedian Harmonists gesungen. Obwohl ich doch gar nicht singen kann, habe ich die ganze Nacht gesungen, bis sie endlich schlafen konnte.«
    In diesem Augenblick, während er redete und redete und gar nicht darauf achtete, ob ich ihm zuhörte oder nicht, wusste ich, dass er bald sterben würde und dass meine Mutter der einzige Mensch gewesen war, der ihn vielleicht ein wenig gekannt hatte.

13. Dezember
    Der Tag war wie ein klarer, eiskalter Kristall. Die Schwellung an meinem Knie war ein wenig abgeklungen, doch noch immer konnte ich kaum einen Schritt vor den anderen setzen. Die bemitleidenswerten Tattergreise, die ich bei meinen seltenen Besuchen in dem Altenheim gesehen hatte, in dem mein Vater starb, bewegten sich so. Wenn Ira mich so sähe, würde ich mich in Grund und Boden schämen.
    Trotzdem trieb mich der Hunger ins

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