Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
Vom Netzwerk:
weggeworfen und sich ein neues gesucht. Vielleicht hatte er sich deshalb zum See zurückgezogen, weil er hier besser unterscheiden konnte, welche Dinge unwichtig und welche wichtig waren. Aber eines hatte mein Vater niemals gekonnt: Er wusste nicht, wie man einen anderen Menschen berührte. Nie hatte ich gesehen, dass er meine Mutter geküsst hat, und auch mich hat er nur einmal umarmt, damals, als Ira und ich im Krankenhaus vor unserem toten Sohn standen. Vor Entsetzen waren wir zu zwei grauen, kaum atmenden Steinen geworden, starrten auf den toten Martin herab, der unter unserem Blick immer bleicher und fremder wurde. Er war schon tot und starb doch weiter vor unseren Augen, verlor allmählich das Aussehen des Kindes, das wir gekannt hatten und das mir so ähnlich gewesen war. Mein Vater trat an das Totenbett, aber er beachtete weniger Martin als Iraund mich. Er umarmte uns, spannte seine weiten, fleischigen Arme um uns, als wollte er uns vor dem Tod beschützen.
    Licht schaute erwartungsvoll zu mir herüber. Er bewegte sich anders, schneller und aufgeregter, und als ich vor seinem Käfig stand, breitete er stolz seine Flügel aus. Doktor Melles war da gewesen, er hatte die Zwinge an seinem rechten Flügel entfernt und durch zwei locker geknüpfte Bänder ersetzt. Am Käfig hing ein Briefumschlag mit einer stolzen Rechnung für die Behandlung, die ich unverzüglich begleichen sollte, und ein hastig geschriebener Zettel. Die Schrift war kaum zu entziffern. Der Flügel ist schon recht gut verheilt. In der nächsten Woche können Sie den Verband entfernen und den Vogel wieder freilassen. Gruß – Dr. Melles.
    PS: Sie haben Ihren Freund sehr großzügig gefuttert. Setzen Sie ihn zwei Tage auf Diät!
    »Hast du gehört, Licht? Du bist zu fett geworden!«, rief ich dem Fischreiher zu. »Und außerdem kostest du mich eine schöne Stange Geld.« Er krächzte und schlug heftig mit den Flügeln, wie um mich zu beeindrucken oder um tatsächlich im engen Käfig einen ersten Flugversuch zu wagen.
    Im Haus postierte ich mich am Fenster und schaute Licht zu, wie er sich putzte und hartnäckig an seinem Verband zupfte, als müsste er die schrecklichen Schleifen aus Mullbinde nur loswerden, um endlich wieder in die Freiheit zu gelangen. Insgeheim jedoch, während ich den Reiher beobachtete, begann ich zu warten. Eine Uhr tickte in mir; ich zählte Sekunden und Minuten. Ich wartete darauf, dass etwas geschah, dass ich nicht länger allein blieb. Hedda sollte um die Ecke kommen; ich wünschte mir, ihrHaar zu riechen und den Druck ihrer warmen Hand zu spüren.
    Im Westen ging die Sonne unter und tauchte alles in ein weiches, goldenes Licht. Die kahlen Bäume sahen aus, als hätte jemand sie mit Goldlack überzogen. Auch Licht leuchtete. Ohne sich zu rühren, horchte er in die Abenddämmerung hinaus. Vielleicht gab es da in der Ferne einen Gesang, den nur Fischreiher hören konnten, den Gesang erlöschenden Lichts oder die Stimme der Nacht, die heraufzog, oder er hörte die Lieder der Vögel, die sich für die Dunkelheit bereit machten.
    Zum ersten Mal benutzte ich mein mobiles Telefon und ließ mich mit Hedda verbinden. Was sollte ich sagen, wenn der Junge an den Apparat ging? Ich hatte mir keine Worte zurechtgelegt. Viermal hörte ich das montone Klingeln, dann sprang der Anrufbeantworter an. Heddas Stimme klang so jung und energisch, dass man sie für ein zwanzigjähriges Mädchen halten mochte, das gerade die Schule hinter sich gebracht hatte. Ich hinterließ meine Nummer und unterbrach die Verbindung.
    Die Nacht flog noch früher heran als in den Tagen zuvor. Selbst Licht verschwand in der Dunkelheit. Ich hätte ein Geist sein mögen, der überall zugleich sein konnte, der über Hedda und dem Pfarrhaus schwebte, der Ochs überwachte und gleichzeitig die Bundesstraße im Blick hatte und sah, wann Ira mit ihrem Gefolge heranrauschte.
    Hedda rief nicht zurück, und ich war zu stolz, es noch einmal zu probieren. Ich hatte auch keinen wirklichen Grund, mit ihr zu sprechen, außer dass es draußen dunkel war und ich nicht allein sein wollte. Als ich dann die Pistole herausholte, nicht um sie zu benutzen, sondern lediglich um sie anzuschauen, um zu wissen, dass sie noch dawar, hörte ich plötzlich ein seltsames, hohes Piepen. Ich brauchte ein paar Momente, bis ich begriff, woher die schrillen Töne kamen. Mein Telefon meldete sich. Ich drückte auf den falschen oder richtigen Knopf, ich wusste es nicht, und ich hörte nichts, nur ein

Weitere Kostenlose Bücher