Das wird mein Jahr
viel mit Vaters Gartenlaube zu tun. Und dann noch die Arbeit in der Gärtnerei in Verbindung mit meinem latenten, mittlerweile schon chronischen Liebeskummer – das alles verdarb mir bislang die Lust am Revoltemachen. Doch schließlich hatte ich mich nach vielen Mixgetränken breitquatschen lassen.
Als die Bahn anhielt und die Türen sich öffneten, war alles überfüllt. Wie im dicksten Berufsverkehr. Dave und Martin drängelten sich sofort rein, doch vor meiner Nase ging die Tür zu, und die Bahn fuhr los. Die beiden konnten nur noch lautlos winken. Wie sollte ich die in der Innenstadt wiederfinden, bei so vielen Menschen? Minutenlang stand ich verdattert vor dem Haltestellenhäuschen. Dann ging ich wieder nach Hause.
Andi fehlte mir. Und Anke auch. In ganz verzweifelten Momenten sogar Katrin! Immer noch hoffte ich auf einen Anruf oder auf Post. Andi traute sich offenbar nicht anzurufen, aber dafür hatte ich Verständnis. Es war ja auch zu meinem Schutz, wegen der Stasi im Telefon.
Ich hörte mir Ankes Schallplatten an, während Dave und Martin und zehntausende andere in der Innenstadt demonstrierten – Tears For Fears »The Hurting« und The Cures »Faith«. Ich las die Texte auf den Plattenhüllen mit, auf der Suche nach einer Antwort auf all die Fragen, die ich niemandem stellen konnte. Warum war ich noch hier? Waswar das mit Anke gewesen? Was kommt als nächstes? Draußen im Land und in der Stadt war scheinbar alles im Umbruch, auch ohne mein Zutun. Immerhin war Ende Oktober die Gartenlaube fertig geworden – durch mein Zutun, zwei Tage, nachdem Honecker von all seinen Ämtern zurückgetreten war. Mein Vater sagte scherzhaft: »Das ist nun die Erich-Honecker-Gedächtnislaube.« Aber mein Ticket nach Ungarn konnte oder wollte ich noch nicht lösen. Woche um Woche zögerte ich die Entscheidung hinaus.
Es war ein kalter Donnerstag im November, als ich am späten Nachmittag müde aus der Gärtnerei nach Hause kam. Ein Brief lag für mich auf dem Telefontisch im Flur. Der Absender hieß: »Wehrkreiskommando«. Auch das noch! Ich bekam einen Adrenalinschub, wie ich ihn zuvor nicht gekannt hatte und verschwand in meinem Zimmer. Was ich aus dem Umschlag zog, war nichts anderes als meine Einberufung zum Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee. Nein! Wieso ausgerechnet ich? Ich saß auf meinem Bett und starrte auf die Fotos von Morrissey, die an der Wand hingen. Der war bestimmt nicht bei der Asche gewesen. Dem ging’s gut.
Nach einer Weile ging ich mit dem Wisch in die Küche, wo mein Vater am Tisch saß und Zeitung las. Meine Mutter schaute im Wohnzimmer die Nachrichten. Die monotone Stimme des Sprechers tönte hinter der angelehnten Tür.
»Ja, da musst du durch, Junge«, entgegnete mein Vater beiläufig, nachdem er das Schreiben überflogen hatte. »Mussten wir alle. Die Frauen kriegen die Kinder, und dieMänner gehen zur Armee.« Das waren die guten Ratschläge eines Vaters an seinen frustrierten Sohn?
»Aber gerade jetzt?«, entgegnete ich. »Armeen machen doch sowieso keinen Sinn mehr. Eine Atombombe und alles is futsch. Außerdem, was du aus deiner NVA-Zeit erzählt hast, von wegen den ganzen Schikanen und so. Andis Bruder hat das auch alles mitmachen müssen. Nee, darauf hab ich absolut keinen Bock!«
»Tja, was willste denn machen, Junge? Vor der Armee drückt man sich nicht. Da lernst du wenigstens mal, wie man sein Bett ordentlich macht. Das hat noch keinem geschadet.«
Ich lehnte am Kühlschrank und schaute meinen Vater an. »Mich interessiert aber nicht, wie eine Kalaschnikow funktioniert, ich will nur wissen, wie man Gitarre spielt.«
»Friedemann, das Leben besteht nun mal nicht nur aus Faulenzen und Träumereien. Dein Großvater damals, der hatte ’ne schlechte Zeit erwischt, aber du … Das wird schon. Geht schnell vorbei.« Er raschelte mit der Zeitung und blätterte zum Sportteil.
In mir begann es zu brodeln: »Ich will aber nicht zur Armee. Ich bin Musiker, kein Soldat.« Meine Stimme wurde immer lauter. »Anderthalb Jahre meines Lebens in einer beschissenen Kaserne verplempern. Lieber hau ich ab nach drüben«, rief ich ihm zu. Ich musste dringend aus diesem Zimmer raus.
Mein Vater legte geräuschvoll die Zeitung aus der Hand. »Jetzt mach mal halblang«, rief er in strengem Tonfall. »Willst du dein Leben lang vor den unangenehmen Dingen weglaufen? Was hast du denn schon geleistet? Willst du deswegen in den Knast?«
»Ist doch das Gleiche. Verdammte Scheiße!
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