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Das wird mein Jahr

Das wird mein Jahr

Titel: Das wird mein Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Lange
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Mutti. Wirklich. Keine Ahnung, wie lange die Mauer noch offen ist. Vielleicht stoppen die Russen das ja wieder. Oder die Amis oder wer weiß noch. Und gerade jetzt noch zur Armee?«
    Auch mein Vater umarmte mich unsicher, und ich überlegte, wann wir uns das letzte Mal so verabschiedet hatten.
    Gegen ein Uhr nachts kam langsam der Grenzübergang Hirschberg in Sicht. Hier war alles hell erleuchtet inmitten der allumfassenden Dunkelheit. Überall Maschendrahtzäune, unzählige Scheinwerfer und Wachtürme. Als ob dahinter ein kontaminierter Landstrich wäre. Eine Seuchensperrzone. Ich glaube, die SED-Bonzen hatten das auch so verstanden. Nur eben ihr liebes Volk nicht. Nun hatten sie den Salat. Beide Spuren der Autobahn waren voller Ost-Kisten gen Westen. Der Geruch von Zweitaktmotoren lag in der Nachtluft, und ihr lautstarkes Tuckern übertönte meinen Rekorder, denn die Batterien wurden langsam schwächer. »I never, never want to go home. Because I haven’t got one. Anymore …« Die Kassette fing an zu leiern, und ich stoppte das Band.
    Weiter draußen hinter den Zäunen hörte man Hunde bellen.
    Allmählich rollte ich auf die Passkontrolle zu. Ob es irgendwelche Probleme geben könnte? Die werden ja wohl kaum wissen, dass ich bereits meinen Einberufungsbefehl bekommen hatte. Bei dem Chaos im Land. Oder am Ende doch? Ob das dann so was wie desertieren war? Scheiße, so hatte ich das noch gar nicht gesehen! Panik kroch plötzlich durch meine kalten Füße in mich rein, und in meinem Kopf begann es zu hämmern. Was nun? Zurück konnte ich jetzt nicht mehr, ich stand keine dreißig Meter von der Passkontrolle entfernt und war von Autos quasi eingekeilt. Zurück wollte ich auch nicht! Nur noch ein paar Meter und ich wäre drüben. Cool bleiben und notfalls dumm stellen.Meine ganzen Papiere, Zeugnisse und so, hatte ich bereits in Leipzig vorsorglich im Reserveradkasten versteckt. Man konnte ja nie wissen. Sicher nicht das originellste Versteck, aber besser als nichts, dachte ich mir. Wird schon klappen. Es muss. Es muss.
    Vor mir winkten die DDR-Grenzer einen Wagen durch und auch gleich den nächsten. Pässe wurden kurz hingehalten, die Grenzer stempelten hinten was rein und machten anschließend eine Handbewegung, die so viel wie »Weiterfahren!« bedeutete. Ich hielt ebenfalls meinen Pass aus dem runtergekurbelten Seitenfenster, während ich im Schritttempo an die Grenzbeamten heranrollte. Der Grenzer nahm ihn und schaute flüchtig auf den Visastempel, gab mir das Ding zurück und wünschte gute Weiterfahrt. Dann passierte ich eine weiße Betonstele mit DDR-Emblem.
    Obwohl ich die gleichen Bilder gestern Abend im Fernsehen gesehen hatte, konnte ich es einfach nicht glauben. Aber es stimmte wirklich! Ein paar Meter weiter war schon der westdeutsche Zoll. Alle Autos um mich herum hupten wie verrückt, und auf der westdeutschen Seite standen lachende Leute mit Sektflaschen und klopften auf die Dächer der Trabbis und Ladas, die sich langsam durch die Menschentraube vorwärtsbewegten. »Go West«, dieses Lied von den Pet Shop Boys kam mir plötzlich in den Sinn. Ich hasste den Song, weil er so eine vergnügte, oberflächliche Melodie hatte, ohne jeden Tiefgang, aber ich bekam ihn jetzt nicht mehr aus meinem Kopf raus. Die westdeutschen Grenzbeamten grinsten mich nur kurz an. Niemand wollte meinen Pass sehen.
    Und dann war ich wirklich drüben. Ich spürte es, weilsich der Belag der Fahrbahn plötzlich änderte. Die DDR--Autobahnen waren aus einzelnen Betonplatten zusammengesetzt, und man spürte immer die Asphalt-Naht, wenn man über sie hinwegfuhr. Doch plötzlich glitt selbst der Warti sanft dahin, ohne zu holpern. Ein Schild grüßte mich mit »Freistaat Bayern«. Überall standen Menschen auf der Fahrbahn und am Seitenstreifen. Auch einige Kamerateams waren da. Doch ich hatte keine Zeit zum Feiern. Ich konnte diesen Augenblick nicht genießen, obwohl ich mindestens so aufgeregt war, wie alle anderen hier. Ich war ungeduldig. Und neugierig. Egal, was jetzt kommen würde, es würde auf jeden Fall ein Abenteuer werden, und dazu war ich gerade in Stimmung. Ich schlängelte den Warti hupend durch die feiernden Leute. Viel zu lange hatte ich in Leipzig gezögert. Jetzt hatte ich keine Zeit mehr zu verlieren.
    Am nahe gelegenen Rasthof Frankenwald fuhr ich auf den überfüllten Parkplatz und suchte mir eine Telefonzelle. Mit den West-Münzen, die mir mein Vater mitgegeben hatte, rief ich bei Andi an. Hoffentlich erreichte

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