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Das wird mein Jahr

Das wird mein Jahr

Titel: Das wird mein Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Lange
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ich ihn, er war hier mein einziger Anlaufpunkt. Nach dem vierten Freizeichen hörte ich eine vertraute Stimme »Hallo?« sagen.
    Ich rief freudig in den Hörer: »Andi? Andi, ich bin’s: Friedemann! Ich bin drüben! Also hier, ich meine, ich bin im Westen.«
    »Friedemann! Ja, Mensch, alter Kunde. Schön, dich zu hören. Alles klar bei dir?« Er klang fast schon so taff wie sein Bruder.
    »Alles bestens. Die wollten mich zur Asche einziehen, und da bin ich gleich rüber. Die und ihre Scheiß-Armee. Ohne mich.«
    »Ja super. Wo bist du jetzt?«
    »Gleich hinter der Grenze, irgendwo in der Nähe von Hof. Mit dem Warti.«
    »Mit der alten Kiste? Na cool. Und wo willst du hin?«, fragte Andi.
    »Gute Frage – keine Ahnung. Erst mal brauch ich was zum Pennen. Hast du vielleicht noch ein Sofa frei?«
    »Verstehe. Tja, bei uns ist es recht eng. Warte mal, ich muss mal kurz Katrin fragen.«
    »Ach, ihr wohnt zusammen?«
    »Ja, warte mal.«
    »Mach schnell, ich hab nicht viel Geld für das Telefon«, sagte ich noch.
    Andi rief durch die Wohnung nach Katrin. Was sie besprachen, konnte ich nicht richtig verstehen. Im Hintergrund hörte man einen Fernseher laufen. »Friedemann?«, tönte Andis Stimme wieder im Hörer. »Klar, kannst vorbeikommen. Mensch, alter Kunde. Fahr … tja, wohin am besten … Fahr weiter nach Nürnberg, dann Richtung Heilbronn und dann die Abfahrt Stuttgart-Zentrum rein zum Hauptbahnhof. Und dann ruf mich noch mal an. Ist alles ausgeschildert.«
    »Das ist spitze! Bis nachher. Danke! Tausend Dank!« Ich legte auf und strahlte übers ganze Gesicht. Nürnberg, Heilbronn, Stuttgart. Ich wiederholte die Route mehrmals in Gedanken, denn ich hatte keinen Straßenatlas. Mein guter alter Andi. Ich hatte also schon mal eine Unterkunft.
    Vom Roten Kreuz ließ ich mir auf dem Parkplatz noch einen Teller Suppe aus der Gulaschkanone und einen Kaffee spendieren. Jetzt kam ich mir schon ein wenig wie ein Flüchtling vor. Andererseits: meine erste West-Mahlzeit!Eigentlich schmeckte es wie Ost-Schulessen, aber das konnte ich mir unmöglich eingestehen.
    Viel sah ich nicht vom Westen, während ich durch die Nacht fuhr. Meist nur ein paar Lichter in der Ferne. Bayreuth war die erste Stadt, die ich vom Namen her kannte. Die Autobahn schien mitten hindurchzugehen. Links und rechts von der Fahrbahn sah ich im Schein der Straßenlampen Wohnhäuser und Industriegebiete.
    Ich hatte Nürnberg hinter mir gelassen, als mich ein Militärkonvoi der US-Armee überholte. Die olivgrünen Fahrzeuge waren in der Dunkelheit kaum zu sehen. Ich erschrak tierisch, aber dann fiel mir ein, dass sie nicht in Richtung DDR-Grenze unterwegs waren. Der dritte Weltkrieg brach heute Nacht also nicht aus. Als ich kurz in das Fahrerhaus eines Jeeps blickte, sah ich, wie der Soldat auf dem Beifahrersitz verwundert auf den Warti starrte. Offenbar hatte er noch nie so ein Auto gesehen.
    Die US-Armee war zu Hause am Küchentisch immer mal Thema gewesen. Mein Vater erzählte uns in regelmäßigen Abständen, wie seine große Schwester im April 1945 als ganz kleines Kind von amerikanischen Soldaten in Leipzig ihren ersten Kaugummi geschenkt bekommen hatte.
    Langsam verschwand der Konvoi vor mir in der Nacht. Immer wieder donnerten auf der linken Spur große West-Schlitten mit mörderischen Geschwindigkeiten an mir vorbei, während ich etwa 100 km/h fuhr. Offenbar gab es hier kein Tempolimit. Mir nützte das nichts, der Warti fuhr schon so schnell er konnte. Die Batterien des Rekorders waren endgültig im Eimer, und so hörte ich mit dem alten Monoautoradio Bayern 3, immerhin auf UKW. Zu Hause inLeipzig hatte ich den auch manchmal reingekriegt – mit jeder Menge Rauschen. Wie komisch das plötzlich klang: zu Hause. Als aus den Boxen »Road to Nowhere« von den Talking Heads kam, sang ich lautstark gegen meine Müdigkeit an. Denn genau da war ich gerade: auf der Straße ins Nirgendwo. Drüben war jetzt hier.
    Langsam wurde es Morgen. Laut einem blauen Schild waren es noch fünfundvierzig Kilometer bis Stuttgart, die Landschaft wurde zunehmend hügeliger, an den Hängen sah ich immer wieder dicht gedrängte Wohnsiedlungen und meinte auch Weinberge zu erkennen. Vierspurige Straßen führten mich von der Autobahn ins Zentrum. Ampeln und Leuchtreklamen erhellten die morgendliche Stadt. So viele Häuser, so viele Autos, so viele Hinweisschilder. Eine knallgelbe Straßenbahn auf einem separaten Gleisbett kam neben mir aus der Erde geschossen. Ich fuhr auf einer

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