Das wird mein Jahr
dunkel. Ich nahm noch einen Schluck aus der Flasche und ließ sie auf dem Schreibtisch stehen. Oben auf ihrem Kleiderschrank entdeckte ich einen Reiserucksack. Ich zerrte ihn runter und packte den Rekorder rein. Die Seitentaschen füllte ich mit ihren Musikkassetten. Für ihre West-Schallplatten fand ich noch einen Stoffbeutel. Zuletzt nahm ich unser Bandfoto vom Schreibtisch und steckte es zu den Platten. Bevor ich ihr Zimmer verließ, atmete ich noch einmal tief ein und aus: Anke.
Leise schlich ich aus dem Haus, verschloss die Tür und legte den Schlüssel wieder unter den Blumentopf. Niemand sah mich, als ich das Grundstück verließ und schwer bepackt den Heimweg antrat.
»Hat sich Andi eigentlich mal bei dir gemeldet?«, fragte mich mein Vater, während ich Mörtel auf die letzten Steine unserer neuen Gartenlaube klatschte.
»Nee. Ich denke mal, er will nicht, dass ich Ärger bekomme, weil wir doch zusammen in Ungarn waren. Von wegen Fluchthelfer oder so was.«
»Aber ’ne Karte könnte er ja mal schreiben. Ihr wart doch immer die dicksten Kumpels.«
Ich zuckte nur stumm mit den Schultern. Wenn wenigstens Anke eine Karte schreiben würde.
»Sag mal, du und Mutti, habt ihr nicht auch mal darüber nachgedacht rüber zu gehen?«
Mein Vater blickte sich fast erschrocken um und schaute, ob von den Gartennachbarn jemand in Hörweite war. Dann schwieg er einen Moment.
»Ach, Friedemann, weißt du, deine Mutter und ich sind jetzt Mitte vierzig. Ich glaube nicht, dass ich drüben noch Arbeit kriegen würde. Im Fernsehen sagen sie immer, die nehmen dort nur junge Leute. Wir haben hier unser ganzes Leben lang auf bessere Zeiten gewartet, die uns versprochen worden sind. Der Sozialismus in der DDR, das sollte ja nur sozusagen das Wartezimmer zum Kommunismus sein. Und so haben wir gewartet, dass es mit Walter Ulbricht besser wird und dass die Mauer wieder wegkommt. Dann, als Honecker an die Macht kam, haben wir gewartet, dass er den Laden besser schmeißt. Ich glaube, der einzige Grund, warum es diese DDR schon so lange gibt, ist die Geduld, die die Menschen darin haben, das Warten auf bessere Zeiten. Die wurden uns ja immer versprochen. Und nun … Ich glaube für unsereins gibt es nichts Neues mehr.« Mein Vater hob den nächsten Gasbetonstein auf den Mörtel, und ich rückte ihn ins Lot.
Ich saß alleine auf unserer braunen Couch im Wohnzimmer. Meine Eltern waren bei einer Betriebsfeier und würden erfahrungsgemäß sehr spät und etwas angetrunken nach Hause kommen. In den ZDF-Nachrichten lief ein Bericht über DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft, Tausende waren dort seit Wochen untergekommen. Genscher stand auf einem Balkon und sagte irgendwas. Ich verstand es nicht, weil der Empfang sich verschlechterte. Plötzlich jubelten alle, offenbar durften sie mit Genscher mitfahren.Wie einfach das schien. Wäre ich dort gewesen, könnte ich auch mit.
Ich zog meine Jacke an und ging in die Rakete. Der Laden war voll, als ob es nichts anderes gäbe in Leipzig. Ich zwängte mich Richtung Bar. Dave und Martin bestellten gerade eine neue Runde Pfeffis. Ich nahm auch einen.
»Hast du schon gehört, die Botschaftsbesetzer in Prag dürfen raus«, sagte Martin, und ich nickte.
»Vielleicht sollten wir auch mal was besetzen«, warf Dave ein, »sagen wir einen Intershop und dann Depeche-Mode-Platten für alle fordern.« Er schaute, als ob er das ernsthaft überlegte. Wahrscheinlich hatten ihn zu viele Pfeffis auf die Idee gebracht.
»Meinst du, da kommt auch Genscher vorbei, mit ’nem Koffer voller Vinyl?«, entgegnete ich, und Dave nickte eifrig.
»Genau. Wir müssen ihm nur noch unsere Wunschliste schreiben.«
Heute war Montag. Dave, Martin und ich trafen uns an der Straßenbahnhaltestelle Ratzelstraße. Die Jungs hatten ihre feinsten Depeche-Mode-Outfits angelegt, so als hätten sie vor zur Disco zu gehen. Aber das Wochenende hatten wir gerade hinter uns.
»Das wird total geil, Blume, wirste sehen. Letzte Woche waren es 70.000. So viele Menschen freiwillig auf ’ner Demo in der Zone. Das hat es das letzte Mal am 17. Juni 1953 gegeben.« Martin sprach leise, da noch eine ganze Menge anderer Leute an der Haltestelle standen, die wir nicht kannten.
Den ganzen Samstagabend in der Rakete hatten sie mir in den Ohren gelegen, ich solle unbedingt mit auf eine Montagsdemo. Schon am 7. Oktober waren die beiden in der Innenstadt gewesen und hatten sich von den Vopos durch die Straßen jagen lassen. Aber ich hatte so
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