Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das wird mein Jahr

Das wird mein Jahr

Titel: Das wird mein Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Lange
Vom Netzwerk:
schaute auf mein Facharbeiterzeugnis. »Was haben Sie ihnen denn in diesem Unterrichtsfach beigebracht, wenn ich mal fragen darf: ›Staatsbürgerkunde‹ und hier ›Marxismus/Leninismus‹? Was hatte denn dieser Lenin mit Blumen zu tun?«
    »Überhaupt nichts. Deswegen ist ja die DDR auch am Untergehen. Am Verwelken sozusagen.« Ich lächelte, da Gärtnermeister Merk sich offenbar über dieses von allen Ost-Lehrlingen gehasste Unterrichtsfach lustig machte. Jetzt kam es darauf an, ihm zu zeigen, dass ich auf seiner Seite war.
    Er schaute noch eine Weile über meine Zeugnisse. »Ab wann könnten Sie denn überhaupt anfangen?«
    »Ab sofort. Wie es Ihnen recht ist.«
    Er nickte wieder und schaute dabei aus dem Fenster. Offenbar dachte er nach. Oder schaute einem Flugzeug hinterher. »Also, Herr Blumenstrauß. Ich versuche es mal mit Ihnen. Zunächst hier in der Gärtnerei und wenn Sie sich geschickt anstellen, auch beim Gartenbau. Einen Monat Probezeit, um zu sehen, was Sie so können und dann schauen wir weiter. Schließlich sollten wir unseren Landsleuten von drüben eine Chance geben. Wir gehören ja jetzt irgendwie wieder zusammen, wir Deutsche. Sagt zumindest unser Bundeskanzler.« Er reichte mir die Bewerbungsunterlagen über den Schreibtisch. »Sind Sie mit Ihren Eltern gekommen?«
    »Nein, alleine.«
    Er nickte mir anerkennend zu. Vielleicht entwickelte er auch gerade väterliche Gefühle für einen Ost-Jugendlichen, der in die große weite Welt ausgezogen war, sein Glück zu suchen. Dann schaute er wieder etwas ernster. »Aber: Hier bei uns in der Bundesrepublik wird nicht gekleckert wie in der Ost-Zone, sondern geklotzt. Für den Job bekommen Sie keine Aluchips oder wertlose Rubel, sondern Geld von dem man sich was kaufen kann. Und das Allerwichtigste:Was ich sage, wird gemacht. Hier gibt es nur ›Ja bitte‹ und kein ›Ja aber‹. Wir sind schließlich nicht auf einer Montagsdemo in Leipzig. Alles klar?« Herr Merk lächelte wieder. Nach väterlichen Gefühlen klang das irgendwie doch nicht. »So, kommen Sie, ich will Ihnen noch kurz die Gärtnerei zeigen.« Herr Merk erhob sich und führte mich nach draußen.
    Der weiß gestrichene Gebäudekomplex war wie ein Dreiseithof angeordnet. Rechts in dem kleinen einstöckigen Gebäude befand sich zur Straße hin das Büro. An der Hauswand rankte sich wilder Wein hoch, der schon fast alle Blätter verloren hatte. In der Mitte war eine Scheune mit einer offenen Durchfahrt auf das zur Gärtnerei gehörende hintere Gelände, wo sich die Gewächshäuser befanden. Auf einem leicht ansteigenden Hügel sah man eine große Streuobstwiese, die im Frühling bestimmt in voller Blüte stehen würde. Links auf dem Hof schloss sich ein zweistöckiger Bau an, unten mit Garagen und oben offenbar nicht genutzten Büros oder Wohnungen.
    »Wir sind hier am Esslinger Stadtrand fünf Gärtnereien auf der Südseite vom Neckar. Alles Familienbetriebe«, erklärte Herr Merk und machte eine ausladende Handbewegung über die Ebene. Hinter uns erhoben sich bewaldete Berge, ebenso auf der anderen Seite des Flusses, wo sich die Esslinger Altstadt befand. Über uns flog ein Flugzeug zum nahe gelegenen Stuttgarter Flughafen. Trotz des spätherbstlichen Nieselwetters bekam ich fast so was wie Urlaubsstimmung.
    Gärtnermeister Merks Schnurlostelefon klingelte. »Gut, Herr Blumenstrauß, die Gewächshausbesichtigung machenwir morgen. Seien Sie bitte um sieben Uhr da. Alles klar? Auf Wiedersehen.« Er wandte sich ab und ging zurück zum Büro.
    »Bis morgen und vielen Dank!«, rief ich ihm hinterher und lief zum Warti.
    Ich hatte einen Job! Immer und immer wieder sagte ich mir das, während ich zurück nach Stuttgart fuhr. Erst ein paar Tage war ich im Westen, und bald würde sich auf meinem frisch eröffneten Girokonto die harte D-Mark stapeln. Die Warenwelt des Kapitalismus stand mir offen! Alles, was ich zum Leben brauchte, würde ich mir kaufen können. Und ich brauchte viel. Schließlich musste ich vierzig Jahre DDR … ich meine achtzehn Jahre DDR nachholen. Jetzt gehörte ich hier dazu und war kein Loser-Zoni mehr. Mit meinem zukünftigen Geld musste ich gut haushalten. Ich brauchte als Erstes eine ordentliche Stereoanlage, einen Farbfernseher, Videorekorder, Satellitenanlage zum MTV--Gucken, eine Spiegelreflexkamera, ein Mountainbike, Klamotten, Schuhe – am besten Doc Martens. Und dann wollte ich endlich meine Lieblingsschallplatten von The Smiths oder besser gleich CDs. Natürlich

Weitere Kostenlose Bücher