Das wird mein Jahr
LPs, die es überhaupt gab. Absolut alle – so groß, wie der schien. Durch die Glastür konnte man Regale voller Vinyl und auch diese neuen CDs sehen. Ich klebte daran wie eine Fliege an der Windschutzscheibe und versuchte, das Angebot genauer zu ergründen. Ob Morrissey bei »Pop International« stand oder bei »Independent«? Hier würde ich gleich morgen mein ganzes Geld hintragen und mir all die Platten kaufen, die ich bislang nur als verrauschte Überspielung auf Kassette besaß. Na ja, für alle reichte das Geld nicht sofort, aber eine würde doch drin sein. Ich grübelte, was ich mir als erstes holen könnte und schlenderte langsam weiter.
Schließlich schien ich am Ende der Einkaufsstraße angekommen zu sein. Gegenüber stand der klobige Bahnhof. Rechts von mir in einem Haus entdeckte ich das einzige Geschäft, das hier sonntags um diese Zeit aufzuhaben schien: Die Touristinformation. Davor befand sich ein Metallständer mit bunten Prospekten. Ein kleines Hinweisschild verkündete: »Gratis für unsere Besucher!« Ich nahm wahllos von jedem der Hochglanzhefte eins heraus und ging in den Laden. In einer Glasvitrine waren Souvenirs ausgestellt. Kugelschreiber, Löffel und Feuerzeuge mit dem Stuttgarter Stadtwappen drauf, Postkarten und Bildbände. An einem Schalter standen einige nach Echt Kölnisch Wasser riechende Rentnerinnen und fragten die junge Angestellte nach einer Stadtrundfahrt. Ob ich auch so was machen sollte? So könnte ich mir meine neue Heimat von geschultem Fachpersonal erklären lassen. Ich schaute auf meine Uhr. Noch nicht mal um zehn. Andi würde locker noch zwei Stunden schlafen.
Die Renterinnen hatten inzwischen den Laden verlassen. Ich ging zum Schalter und fragte nach.
»Jetzt gleich, zehn Uhr, beginnt eine Rundfahrt. Mit Kulturmeile, Schlossplatz und auf die Halbhöhen mit Panoramablick. Dauert etwa zwei Stunden und kostet sechzehnfünfundneunzig.«
Ich zögerte. Damit würde ich fast mein ganzes West-Geld ausgeben. Und nichts wäre mit morgen Platten einkaufen.
Die Verkäuferin bemerkte meine Unsicherheit. »Sind Sie noch Schüler oder Student? Dann würde es billiger werden.«
»Na ja, wenn man’s genau nimmt, bin ich gerade gar nix. Ich bin gestern von drüben gekommen, aus der DDR.«
»Ach so! Dann heißt Sie die Stadt Stuttgart besonders herzlich willkommen. Für Touristen aus dem Osten ist die Rundfahrt dieses Wochenende kostenlos.« Die junge Frau strahlte mich routiniert an, und ich strahlte spontan zurück, obwohl sie gar nicht mein Typ war, aber das fand ich ja mal ein nettes Willkommensgeschenk. Ich bedankte mich überschwänglich und ging mit meiner Fahrkarte um die Ecke zum Parkplatz. An der Bustür stand ein Mann mittleren Alters. Er nahm mein Ticket und schaute kurz drauf. »Ah, Sie kommen von drüben?«
»Ja, drüben von der Touristinformation«, antwortete ich.
»Nein, ich meine, Sie kommen ausm Osten. Das Gratisticket.« Er wedelte mit meiner Karte.
»Ach so. Ja.«
»Na dann, willkommen in der Freiheit. Sie sind der erste Ost-Tourist, der die Stadtrundfahrt mitmacht. Die anderenscheinen wohl den weiten Weg zu scheuen. Wahrscheinlich halten die Trabbis so eine lange Strecke nicht durch.« Er lachte kurz auf. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte und nickte nur. Sollte ich ihm der Ehrlichkeit halber sagen, dass ich gar kein Tourist war, sondern vorhatte, hier zu bleiben? Mit einer Handbewegung deutete er an, dass ich jetzt einsteigen konnte.
Der Bus war schon gut gefüllt, aber ich bekam noch eine Doppelsitzreihe für mich allein. Ich schien der einzige zu sein, der die vierzig noch nicht erreicht hatte. Ach, was sag ich, die fünfzig oder wenn man genau hinsah, die sechzig.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gäste der Landeshauptstadt Stuttgart«, tönte der Reiseführer freundlich in das Mikrophon. »Ganz besonders freue ich mich, dass heute ein junger Landsmann aus dem Osten die Möglichkeit nutzen kann, als Tourist an unserer Rundreise teilzunehmen. Ihnen einen ganz besonders guten Tag in der Freiheit.«
Ich schaute etwas verschämt zu Boden, und einige klatschten sogar. Schon überlegte ich, wieder auszusteigen, doch da fuhr der Bus an und kroch im Schneckentempo an alten, repräsentativen Gebäuden vorbei, an Museen, am Stuttgarter Schloss, an der neuen Kultur- und Kongresshalle, dem Messegelände am Killesberg und ich saugte den Anblick der Stadt in mir auf. Hier wirkte nichts kaputt und improvisiert wie in Leipzig. Hier
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