Das wird mein Jahr
deren Schirmen Fransen baumelten. Helle Stellen an der Wand verrieten, wo früher mal ein Sofa gestanden und wo Bilder gehangen hatten. Im angrenzenden Schlafzimmer lag eine Matratze auf dem Boden. Ein großer leerer Kleiderschrank nahm die ganze Wandbreite ein. Alte Hörzu-Fernsehzeitungen quollen aus einer Pappkiste.
Ich zerrte die Matratze rüber ins Wohnzimmer und platzierte sie so, dass ich genau in der Mitte zwischen den beiden Lautsprecher-Boxen liegen konnte. Danach knipste ich die Lampe aus und schlüpfte in meinen Schlafsack. Nur die blaue-rote Beleuchtung der Anlage spendete etwas Licht. »Living In Another World« erfüllte den Raum, und im Halbschlaf glaubte ich, dass sich die Zimmerdecke öffnete und der Sternenhimmel mich in die Nacht zog.
Pliensauvorstadt war ein noch bekloppterer Name für einen Vorort, als Grünau für diese Betonwüste, in der ich aufgewachsen war, dafür schien hier aber alles sehr überschaubar.
Es war Samstag, noch nicht mal zehn Uhr und ich ging spazieren. An die Stille in meiner neuen Wohnung musste ich mich erst gewöhnen. Kein Andi schnarchte aus dem Nachbarzimmer, keine Katrin schaute MTV. Das Ticken meines kleinen Weckers kam mir vor wie das einer Bombe.Vielleicht hatte ich mir gestern Abend auch nur zu viele Biere in Alis Imbiss eingeflößt.
Die Sonne schien auf die laublosen Weinberghänge am anderen Ufer des Neckars. Riesige Krähenschwärme machten sich lautstark über die umliegenden Felder und Bäume her, auf der Suche nach Essbarem. Diese Odyssee hatte ich vorhin in meinem neuen Kühlschrank schnell hinter mich gebracht – da waren nur zwei Dosen River-Cola und eine Familienpackung Mars-Riegel zu finden gewesen.
Ich lief auf der einzigen größeren Straße – in Richtung des angrenzenden Wohngebietes. Unser Haus in Stuttgart sah fast genauso aus. An einer kleinen Tankstelle putzte ein Mittfünfziger seinen roten Opel Kadett auf Hochglanz. Die Straße ging ein wenig bergauf und gleich darauf stand ich vor den drei Blocks, welche am Ortsrand herausragten wie überdimensionierte Kirchtürme. Wirklich, sie hatten etwas von Grünau, nur sahen sie nicht so schäbig aus.
Ein paar Kiddies spielten auf der Straße Fußball. Ihre Fahrräder lagen verstreut auf dem Bordstein. Wenn das die einzige Jugendclique im Viertel war, würde ich hier niemanden kennenlernen und versuchen müssen, meine Kontakte in Stuttgart auszubauen. Na ja. Mein Kontakt zu Andi war ja gerade etwas spärlicher, und Miro schien mir nicht der Typ, der wusste, wo hier in der Gegend die coolen Indie-Bands spielten. Aber ich war ja erst ein paar Wochen hier. Ich hatte einen Job und eine Wohnung, der Rest würde sich schon ergeben. Und mit Andi würde es sich bestimmt bald wieder einrenken. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass er es wirklich so lange mit Katrin aushielt. Irgendwannhat der schon wieder mal Bock auf ein Bier in einer Kneipe oder eine gute Disco. Ich kannte ihn doch.
Zwei Typen auf Fahrrädern fuhren an mir vorbei, sahen mich, stoppten und radelten zurück. Sie schienen nicht älter als fünfzehn oder so, trugen hellbraune Winterblousons und hatten extrem langweilige Frisuren. Die Brille des einen war einem SVK-Gestell aus dem Osten nicht unähnlich.
»Wo kommst denn du her?«, fragte mich der andere und bremste knapp vor meinen Schuhen ab.
»Von da.« Ich zeigte ins Nirgendwo hinter mir und ging weiter.
»Eh, warte mal. Was bist denn du für einer, wir haben dich hier noch nie gesehen.« Die beiden fuhren im Schritttempo neben mir her. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie was mit meinen Lieblingsbands anfangen konnten und wollte mich darum nicht länger als unbedingt notwendig mit ihnen abgeben.
»Ich bin auf der Suche nach einem coolen Plattenladen«, antwortete ich gleichgültig.
»Einen was? So was gibt’s hier nicht in Esslingen. Da läufst du in die falsche Richtung. Vielleicht drüben im Neckar-Center.«
»Ich meine einen coolen Plattenladen«, erwiderte ich noch gleichgültiger.
»Ach so. Da musst du nach Stuttgart«, antwortete die Brille.
»Wieso bist du eigentlich so komisch angezogen?«, fragte mich der andere.
Ich blieb stehen und schaute kurz an mir herunter.Schwarze Schnürschuhe, schwarze Anzughose und einen schwarzen Wintermantel von Andis Großvater. Am Kragen prangte ein selbstgebastelter Anstecker, auf dem »The Smiths« stand. Dazu ein grauer Schal und eben meine Frisur. »Also, ich sehe aus wie immer.« Wollten die Kiddies mich anmachen, oder
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