Das wird mein Jahr
Eine steile Treppe führte scheinbar auf einen Dachboden. »Der gehört mit dazu«, sagte Herr Merk und zeigte nach oben. »Hier haben Sie alles, was Sie brauchen: Heizung, gefliestes Bad, Einbauküche, Telefonanschluss. In Ihrem Alter konnte ich von so einer Wohnung nur träumen. Das werden noch nicht mal Ihre Eltern im Osten haben, oder?« Er strich über die Raufasertapete, die in verschiedenen Braun- und Grüntönen angestrichen war. »Da malern Sie noch mal durch, und dann ist das hier ein echtes Schmuckstück.« Die Zimmer waren klein und niedrig und erinnerten mich ein bisschen an unsere Wohnung in Grünau.
»Und rechnen Sie mal aus, was Sie an Benzinkosten sparen, Herr Blumenstrauß«, wiederholte sich Herr Merk. »Das Geld können Sie gleich in ein neues Auto investieren. Sie wollen sich doch bestimmt bald ein ordentliches kaufen, oder?«
Wir standen mittlerweile in der kleinen Küche, und ich schaute in den großen, leeren Kühlschrank. »Mit extra großemTiefkühlfach«, rief Herr Merk mir zu. Da würden eine Menge Pizzas reingehen. Er hantierte an einer Gas-Therme über der Spüle, und ein gluckerndes Geräusch in den Heizkörpern kündigte baldige Wärme an. Im Flur zeigte er mir eine Art Sicherungskasten. »Das wäre das Einzige, worum ich Sie bitten würde, Herr Blumenstrauß. Das ist das Kontrollgerät für die Heizanlage der Gewächshäuser. Bislang hatten das meine Schwiegereltern übernommen. Ich selbst wohne mit meiner Familie etwa vierzehn Kilometer entfernt drüben in Baltmannsweiler, und habe Angst, im Falle einer Havarie zu spät zu kommen. Wenn sich die Heizung im Winter bei Minusgraden unbemerkt abschaltet, kann ich ein paar tausend Jungpflanzen wegwerfen.« Ich schaute stumm und nickte. »Wenn Sie den Bereitschaftsdienst für die Heizungsanlage übernehmen, komme ich Ihnen mit der Miete auch noch ein wenig entgegen. Sagen wir sechshundert D-Mark inklusive Nebenkosten? Gleich einziehen und ab Januar bezahlen. Da haben Sie noch einen Monat Zeit zum Malern.«
Sechshundert D-Mark – das war eine Menge Geld. Aber Andi und Katrin bezahlten noch mehr. »Was ist mit den Möbeln und was hier sonst noch rumsteht?«, fragte ich. Mein Blick klebte im halbleeren Wohnzimmer an einer silbernen Hifi-Anlage mit Kassettendeck und Plattenspieler, die ich gerade entdeckt hatte. Das Teil musste mindestens zehn Jahre alt sein. Die Fronten der Bausteine bestanden aus poliertem Aluminium.
»Was Sie gebrauchen können, benutzen Sie, den Rest stellen Sie einfach auf den Dachboden. Ist in der Miete inklusive. Na, wie sieht es aus, Herr Blumenstrauß?«
Ich überschlug meine Alternativen, aber mir fielen nicht mal welche ein. »Da kann ich ja wohl kaum Nein sagen«, antwortete ich, und Herr Merk schaute zufrieden.
»Alles klar!« Er drückte mir den Schlüssel in die Hand und verabschiedete sich.
Etwas verunsichert stand ich allein in der Wohnung, nachdem ich Schlafsack und Reisetasche aus dem Auto geholt hatte. Das ging jetzt gerade alles ein bisschen schnell. Aber immer noch besser als im Gewächshaus zu übernachten. Die Stille im Zimmer war trotzdem unheimlich. Nicht mal Autos hörte man von draußen. In der Ferne schlug auch noch eine Kirchturmglocke.
Ich zog das Tape von Talk Talk aus meinem Walkman und schob es in das Kassettendeck der Hifi-Anlage. Sogleich wurde die Stille durch »Happiness Is Easy« unterbrochen und alles um mich in eine warme, melancholische Melodie getaucht. Der Sound der Anlage war überraschend gut. Das Klavier im Song schien neben mir im Raum zu stehen. Ich drehte die Lautstärke auf, denn weit und breit wohnte hier niemand außer mir. Vom Fenster im Wohnzimmer erahnte man in der Dunkelheit die Streuobstwiese und weiter hinten sah ich die erleuchteten Fenster dreier Zwölfgeschosser am Ende einer kleinen Neubausiedlung aus den sechziger und siebziger Jahren, Esslingen-Pliensauvorstadt. Wenn die umliegenden Berge nicht wären, konnte man fast denken, ich schaute auf Grünau. Ich lehnte mich an den Heizkörper und spürte die Wärme in meinen Beinen. Die Kassette von Talk Talk hatte ich mir voriges Jahr kurz vor Weihnachten von Martin überspielt. Genau der passende Soundtrack für kalte, dunkle Tage amEnde eines Jahres. Was wohl er und Dave jetzt machten? Gerade setzte der Kinderchor im Refrain des Songs ein, und für einen kurzen Moment bekam ich fast so was wie Heimweh.
Außer der Hifi-Anlage standen im Wohnzimmer noch ein leeres Bücherregal und eine dieser Stehlampen an
Weitere Kostenlose Bücher