Das wird mein Jahr
Ich könnte auf dem Parkplatz im Auto übernachten. Oder auch im Gewächshaus, das war nicht abgeschlossen. Dort würde ich meine Luftmatratze aufpumpen und die Nacht zwischen den Stecklingen verbringen dürfen. Da war es in jedem Fall wärmer als im Warti. Und wenn ich mir zeitig genug den Wecker stellte, wäre ich wieder draußen, bevor die Kollegen kämen, und keiner würde was merken. Morgen nach Feierabend müsste ich mich dann endlich um eine Wohnung oder wenigstens ein Zimmer kümmern.
Ich lenkte den Warti auf den Kundenparkplatz der Gärtnerei und stellte den Motor ab. Hinter den Bürofenstern waren es dunkel. In der Ferne hörte ich einen Hund bellen. Der Bewegungsmelder schaltete sich an, und zwei kleineScheinwerfer beleuchteten den Hof. Aber niemand war in der Nähe, der mich sehen konnte. Ich lief schnell mit meinem Gepäck zum Gewächshaus. Das Hoflicht ging wieder aus.
Langsam tastete ich mich durch die Dunkelheit. Zwischen zwei Pflanztischen baute ich mein Lager direkt in die Mitte des Gewächshauses und kroch in meinen Schlafsack. Die Luft war feucht und roch nach Erde. Niemand auf der Welt hatte so ein großes, so ein begrüntes Schlafzimmer wie ich heute Nacht. Aber es war niemand hier, der mich beneiden konnte und vielleicht mit mir getauscht hätte. Dabei war Andis Sofa auch nicht bequemer.
Und überhaupt, Andi: Früher in Grünau wäre uns das nicht passiert. Einmal musste seine Mutter eine Woche auf Alkoholentzug in eine Klinik. Sein Bruder war da schon im Westen. Ich hatte meine Eltern überreden können, dass Andi für die Zeit mit in meinem Zimmer wohnen durfte. Das war fast so schön wie Ferienlager gewesen. Wir hörten bis tief in die Nacht Musik und quatschten über die Mädels aus unserer Clique. Damals träumten wir auch schon von einer gemeinsamen Band.
Ich schaute nach oben durch das gläserne Dach in die Nacht und sah so viele Sterne, wie noch nie in meinem Leben. Wenn ich später mal ein reicher und berühmter Popstar bin, lass ich mir genau so ein Schlafzimmer bauen. Vielleicht nicht ganz so groß, aber mit einem komplett verglasten Dach. Wenn es doch schon soweit wäre. Wenn …
Ich musste irgendwann eingeschlafen sein, denn der Wecker klingelte mich aus meinen Träumen, und ich schlich wieder zum Warti. Draußen war es noch dunkel. Auf derRücksitzbank lag ein Raider-Schokoriegel, der mit einem Rest Cola ein ganz passables Frühstück abgab.
Ich musste bis achtzehn Uhr arbeiten. Keine Chance, sich auf Wohnraumsuche zu begeben. Wo sollte ich überhaupt anfangen? Keine Ahnung. Ich beschloss, heute wieder in der Gärtnerei zu pennen, denn das war am billigsten und morgen war ja auch noch ein Tag. Nach Feierabend fuhr ich erst mal fürs Abendbrot zu Ali und danach zurück in die Gärtnerei.
Als ich auf dem Parkplatz ankam, sah ich, dass diesmal im Büro noch Licht brannte. Mist! Aber das konnte sich nur noch um Minuten handeln. In der Zwischenzeit kramte ich meinen Walkman raus, den ich mir letzte Woche vom Begrüßungsgeld bei Neckermann gekauft hatte, und fütterte ihn mit meiner Talk-Talk-Kassette. Hatte ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gehört. Mit meinem Schlafsack deckte ich mich zu.
Plötzlich klopfte es gegen die Seitenscheibe, und Herr Merk schaute erstaunt ins Auto. »Herr Blumenstrauß, Sie wollen doch nicht etwa im Auto übernachten? Bei den Temperaturen holen Sie sich mindestens eine dicke Erkältung. Was werden denn Ihre Eltern vom Leben in der Bundesrepublik denken?«
Ich schaute betreten nach unten. »Die ersten Tage habe ich bei einem Freund in Stuttgart übernachtet, aber da ist es zu eng geworden«, versuchte ich zu erklären.
Herr Merk stand einen Augenblick stumm da, strich sich über seinen Schnurrbart und überlegte. »Kommen Sie, ich glaube, ich hab das was für Sie.« Wir liefen zum Seitengebäudemit den Garagen und stiegen eine Holztreppe hoch in den ersten Stock. »Hier haben bis vor zwei Jahren meine Schwiegereltern gewohnt, aber die sind mittlerweile verstorben. Vielleicht wäre das ja was für Sie zur Miete?« Er schaltete das Licht in dem kleinen Flur ein, von dem vier weitere Türen abgingen.
»Überlegen Sie mal, was Sie an Benzin und Zeit sparen, wenn Sie nicht täglich zwischen Stuttgart und der Gärtnerei pendeln müssten. Immer dieser ewige Stau.« Herr Merk schritt mit mir durch die Räume, als wäre er eigentlich Immobilienmakler. Küche und Bad gingen zum Hof hinaus, die anderen beiden Zimmer mit Blick auf die Streuobstwiese.
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