Das wird mein Jahr
war. Sie stand ganz nah vor mir, und ich hatte den unumstößlichen Drang, sie zu umarmen. Nein, ich wollte hier jetzt auf keinen Fall einfach so gehen. »Und nun?«, fragte ich sie. Sie blickte mich an und sah dann zur Seite.
Plötzlich klingelte es. Anke ging zur Sprechanlage. Sie musste dabei ganz nah an mir vorbei, und ich fasste kurz nach ihrer Hand.
»Hallo?«, rief sie in den Hörer. Ich hörte an der Stimme, dass unten ein junger Mann stehen musste. »Jetzt schon? Ja, klar, komm hoch.« Sie drückte den Türöffner und hängte hastig den Hörer wieder ein. »Scheiße, das ist Michael!« Anke eilte ins Wohnzimmer.
Ich folgte ihr und blickte sie fragend an, während sie sich schnell anzog und ihre Haare zusammenband.
»Er wollte eigentlich erst heute Nachmittag kommen, sorry. Du, das habe ich echt nicht gewusst.« Sie griff sich schnell die Bettdecke, die sie irgendwann in der letzten Nacht geholt hatte und brachte sie in ihr Schlafzimmer zurück. Aus dem Treppenhaus hörte man seine näherkommenden Schritte. Dann klopfte es an der Tür.
Anke ging hin und öffnete sie. »Hallo«, sagte sie betont freundlich zu dem Typen, der hereinkam und ihr einen Kuss gab. Erst dann sah er mich. Ich sagte schnell: »Hallo. Ich bin der Friedemann. Ich kenn Anke noch aus Leipzig.«
»Guten Morgen«, sagte er zu mir, aber ich konnte in seinem Gesicht nicht lesen, was er wohl darüber dachte, mich hier zu treffen. Er blieb neben Anke stehen und legte seinen Arm um sie. Er trug eine Motorradlederjacke, um die ihn Dave und Martin bestimmt beneidet hätten. Etwas älter als Anke schien er zu sein, Mitte zwanzig oder so.
Anke lächelte die ganze Zeit, aber mir kam es etwas gequält vor. Sie hatte offenbar noch damit zu tun, die Situation zu erfassen. Mir ging es nicht anders. »Ich habe Friedemann gestern zufällig auf dem Morrissey-Konzert getroffen, und da er heute noch in der Stadt war, gleich zum Frühstück eingeladen, um über alte Zeiten zu schwatzen.« Dabei schmiegte sie sich ein wenig an ihn, und ich spürte,wie ein Gefühl in mir hochkroch, das nur Eifersucht sein konnte. Scheiße!
»Anke und ich wollten auch bald mal nach Leipzig fahren. Wohnst du noch dort?«, fragte er mich.
»Nein, ich wohne jetzt in Stuttgart. Also, bei Stuttgart, genauer gesagt. Dort jedenfalls.« Ich blickte auf meine Uhr, obwohl ich genau wusste, wie spät es war. »Leider muss ich schon los. Ich fahr heute noch zu meinen Eltern rüber in den Osten.«
Der Typ sah mich freundlich an und nickte. »Ja, schade.«
Ich musste dringend aus Ankes Wohnung raus. Diese Realität war nicht zu ertragen! Ich wollte zurück auf den Traumzauberbaum. Und wenn das nicht ging, dann wenigstens in meinen Bus.
Anke löste sich aus der Umarmung ihres Freundes und brachte mich zur Tür. Er rief mir noch ein »Hat mich gefreut. Na dann, gute Fahrt. Tschö!« zu und ging in die Küche. Sie hielt mich an meiner Jacke fest. Ich stand schon halb im Hausflur.
»Du, das tut mir jetzt echt leid«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. Ich überlegte kurz, ob ich ihr noch einen Abschiedskuss geben sollte, doch da tauchte Michael schon wieder auf.
»Du, Schatz, packen wir dann noch dein Geschirr zusammen?«
Anke drehte sich zu ihm. »Ja, warte, ich sag hier nur noch schnell Tschüss.«
Wir umarmten uns flüchtig und unsicher, und ich wollte ihr noch was ins Ohr flüstern, aber ich brachte einfach nichts heraus. Nach den ersten Stufen drehte ich mich noch mal um, aber ihre Tür war schon zu.
Ich hastete die Treppen runter und riss die Eingangstür auf. Draußen auf dem Fußweg blieb ich kurz stehen und sah an der Hausfassade hoch, doch ihre Fenster konnte ich nicht ausmachen. Ihre Hausnummer war die 13, genau wie meine damals in Grünau. Ich lief um die Ecke zu meinem Bus. »Dammweg«. Ich las ihren Straßennamen im Vorbeigehen. Aber sie würde ja hier bald nicht mehr wohnen. Schon wieder.
14. A Sort of Homecoming
Ich fuhr durch einen verwaisten Grenzübergang in die DDR. Kein Beamter war mehr zu sehen. Die saßen wahrscheinlich in irgendeiner Baracke und soffen sich gegenseitig unter den Tisch. Wozu auch noch Pässe kontrollieren, wenn in gut einem Monat alle den gleichen hätten. Am Straßenrand ragten Betonpfeiler in gleichmäßigen Abständen aus dem Boden. Der daran befestigte Maschendrahtzaun war offenbar bereits verschrottet worden. Die überdachten Abfertigungsstellen, die Zollkontrolle – das alles hatte seinen Sinn verloren. Nicht mehr lange und auch das
Weitere Kostenlose Bücher