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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Jahre alten unermeßlich großen Canyons waren, den ein Fluß in den Fels gegraben hatte - den Fluß gab es jedoch nicht mehr. Die Erosion hatte die Ränder des Canyon zerfressen und an manchen Stellen bis zum Boden abgetragen. Nur dort, wo ich stand, war der Rand noch unversehrt. »Es ist massiver Fels«, sagte Don Juan, der meine Gedanken zu lesen schien. Er wies mit dem Kinn hinunter in die Schlucht. »Alles, was von hier oben hinunterfällt, wird auf dem Gestein zerschmettert werden.« Mit diesen Worten begann an jenem Tag auf dem Berg das Gespräch zwischen Don Juan und mir. Bevor wir aufgebrochen waren, hatte er mir gesagt, daß seine Zeit auf der Erde abgelaufen sei. Er machte sich auf den Weg zu seiner letzten Wanderung. Seine Ankündigung hatte mich vernichtet. Ich verlor meine Fassung und geriet in den untröstlichen Zustand innerer Zersplitterung. Vermutlich war mein Zustand mit dem vergleichbar, was Leute erleben, die einen Nervenzusammenbruch haben. Aber ein Kernfragment, das Ich meiner Kindheit, blieb mir erhalten. Alles andere war unbestimmt und unsicher. Ich war schon so lange innerlich gespalten, daß die erneute Spaltung mein einziger Ausweg aus der Verzweiflung war. Später vollzog sich ein höchst eigenartiger Austausch zwischen verschiedenen Ebenen meines Bewusstseins. Don Juan, sein Gefährte Don Genaro, zwei seiner Schüler, Pablito und Nestor, und ich waren auf den Berg hinauf gestiegen. Pablito, Nestor und ich sollten unsere letzte Aufgabe als Schüler erfüllen. Wir sollten in einen Abgrund springen. Das war eine höchst mysteriöse Angelegenheit, die mir Don Juan auf verschiedenen Bewusstseinsebenen erklärt hatte. Aber all das ist mir bis zum heutigen Tag ein Rätsel geblieben. Don Juan sagte im Spaß, ich möge meinen Notizblock hervorholen und mir über unsere letzte Zeit zusammen Notizen machen. Er gab mir einen sanften Stoß in die Rippen und versicherte mir mit unterdrücktem Lachen, das sei nur angemessen, da ich mich mit dem Schreiben von Notizen auf den Weg des Krieger-Wanderers gemacht hätte.
    Don Genaro mischte sich ein und sagte, andere Krieger-Wanderer hätten auf ihrem Weg in das Unbekannte ebenfalls auf diesem flachen Berg gestanden. Don Juan wandte sich mir zu und sagte freundlich, daß ich mich durch meine persönliche Macht bald in die Unendlichkeit begeben werde. Er und Don Genaro seien nur da, um sich von mir zu verabschieden. Don Genaro unterbrach ihn noch einmal und sagte, ich sei auch da, um mich von ihnen zu verabschieden.
    »Wenn du dich erst einmal in die Unendlichkeit begeben hast, kannst du dich nicht darauf verlassen, daß wir dich zurückbringen. Dann musst du dich entscheiden. Nur du kannst entscheiden, ob du zurückkehren willst oder nicht. Ich muss dich warnen. Nur wenige Krieger-Wanderer überleben diese Art der Begegnung mit der Unendlichkeit. Die Unendlichkeit ist unvorstellbar verlockend. Ein Krieger-Wanderer findet die Rückkehr in die Welt der Verwirrung, Zwänge, des Lärms und der Schmerzen wenig reizvoll. Du musst wissen, deine Entscheidung über Bleiben oder Rückkehr ist keine verstandesmäßige Wahl, sondern eine Sache des Wollens. Wenn du nicht zurückkommen willst«, fuhr er fort, »wirst du so spurlos verschwinden, als ob dich die Erde verschlungen hätte. Aber wenn du zurück willst, dann musst du den Gürtel enger schnallen und wie ein wahrer Krieger-Wanderer warten, bis deine Aufgabe, wie immer sie aussehen mag, entweder erfolgreich oder erfolglos zu Ende ist.«
    Dann vollzog sich in meinem Bewusstsein eine sehr subtile Veränderung. Ich begann, mich an die Gesichter von Menschen zu erinnern, aber ich wusste nicht genau, ob ich sie kannte. Seltsame Gefühle der Angst und Zuneigung drangen in mein Bewusstsein. Ich konnte Don Juans Stimme nicht mehr hören. Ich sehnte mich nach Menschen, von denen ich bezweifelte, sie zu kennen. Plötzlich erfaßte mich eine unerträgliche Liebe für diese Menschen, wer immer sie sein mochten. Meine Gefühle für sie ließen sich nicht in Worte fassen, und doch war ich nicht in der Lage zu sagen, wer diese Leute waren. Ich spürte nur ihre Anwesenheit, als hätte ich das alles schon einmal gelebt oder als hätte ich Gefühle für Menschen in einem Traum. Ich spürte, daß sich ihre Gestalten veränderten. Sie waren anfangs groß, wurden aber klein. Ihr innerstes Wesen blieb intakt, und das löste meine unerträgliche Sehnsucht nach ihnen aus. Don Juan kam zu mir und sagte: »Die Vereinbarung besagt, daß du

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