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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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rational beschreiben konnte. Ich hielt den Blick fest auf den hüpfenden Schatten im Tal gerichtet. Dann hörte ich ein höchst eigenartiges Summen, eine Mischung aus dem Rauschen von Flügeln und dem Brummen eines Radios, das nicht genau die Frequenz eines Senders empfängt. Der Aufprall, der darauf folgte, war unvergeßlich. Er ließ Don Juan und mich bis ins Innerste erbeben - direkt vor uns war ein riesiger Schlammschatten gelandet. »Hab keine Angst«, sagte Don Juan herrisch. »Bewahre deine innere Stille, und er verschwindet.« Ich zitterte am ganzen Körper. Mir war deutlich bewusst, wenn ich meine innere Stille aufgab, würde sich der Schlammschatten wie eine Decke über mich legen und mich ersticken. Ohne daß die Dunkelheit um mich herum verschwand, schrie ich aus Leibeskräften. Ich war noch nie so wütend und so frustriert gewesen. Der Schlammschatten machte einen neuen Satz und sprang hinunter ins Tal. Ich schrie immer weiter und strampelte mit den Beinen. Ich wollte abschütteln, was immer auch gekommen sein mochte, um mich zu fressen. Meine Erregung war so stark, daß ich mein Zeitgefühl verlor. Vielleicht wurde ich ohnmächtig. Ich kam in meinem Bett in Don Juans Haus wieder zu mir. Auf meiner Stirn lag ein in eiskaltes Wasser getauchtes Handtuch. Ich glühte vor Fieber. Eine der Frauen aus Don Juans Gruppe rieb mir den Rücken, die Brust und die Stirn mit Branntwein ein, doch das brachte mir keine Erleichterung. Die Hitze, die ich spürte, kam aus meinem Innern. Erzeugt wurde sie von Zorn und Hilflosigkeit.
    Don Juan lachte, als sei das, was mir widerfuhr, die komischste Sache der Welt. Sein Lachen war wie ein nicht enden wollendes Sperrfeuer.
    »Ich hätte nie geglaubt, daß du dir den Anblick eines Fliegers so zu Herzen nehmen würdest«, sagte er. Er nahm mich bei der Hand und führte mich hinter das Haus. Dort steckte er mich voll angekleidet, mit Schuhen und Armbanduhr in einen großen Bottich voll Wasser. »Meine Uhr! Meine Uhr!« rief ich. Don Juan bog sich vor Lachen. »Du solltest keine Uhr tragen, wenn du mich besuchst«, sagte er. »Jetzt hast du deine Uhr ruiniert!«
    Ich nahm die Armbanduhr ab und legte sie neben den Bottich. Ich wusste, die Uhr war wasserdicht, und es würde ihr nichts passieren. Das Untertauchen half mir sehr. Als Don Juan mich aus dem eiskalten Wasser zog, hatte ich ein gewisses Maß an Kontrolle zurückgewonnen.
    »Das ist ein absurder Anblick!« wiederholte ich immer wieder, unfähig, etwas anderes zu sagen. Der Räuber, den Don Juan mir beschrieben hatte, war nichts Menschenfreundliches. Er war ungeheuer schwerfällig, roh und gleichgültig. Ich spürte die Geringschätzung, die er für uns hegte. Zweifellos hatte er uns vor langer Zeit unterdrückt und, wie Don Juan sagte, schwach, verletzlich und fügsam gemacht. Ich zog meine nassen Sachen aus, hüllte mich in einen Poncho und setzte mich auf das Bett. Ich weinte mir im wahrsten Sinne die Augen aus, aber nicht um mich. Ich hatte meinen Zorn, meinen unbeugsamen Willen, nicht zuzulassen, daß sie mich fraßen. Ich weinte um meine Mitmenschen, besonders um meinen Vater. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nie gewußt, daß ich ihn so sehr liebte.
    Ich hörte, wie ich ständig wiederholte, »Er hatte nie eine Chance«, als seien es nicht wirklich meine Worte. Mein armer Vater, der rücksichtsvollste Mensch, den ich kannte. Er war so zärtlich, so sanft und doch so hilflos.

 
Auf dem Weg zur letzten Wanderung

 
Der Sprung in den Abgrund
    Nur ein Fußpfad führte auf den Tafelberg hinauf. Oben auf der Mesa wurde mir bewusst, daß sie nicht so groß war, wie es aus der Ferne den Anschein hatte. Die Vegetation unterschied sich nicht von der unten - fahlgrüne, verholzte Büsche, die von weitem wie Bäume wirkten. Zuerst sah ich den Abgrund nicht. Erst als mich Don Juan an den Felsrand führte, stellte ich fest, daß die Mesa an einem Abgrund endete. Es war keine richtige Mesa, sondern die flache Kuppe eines hohen Berges. Der Berg, war auf der Ost- und Südseite rund und ausgewaschen. Im Norden und Westen schien der Fels stellenweise wie mit einem Messer geschnitten worden zu sein. Vom Rand des Abgrunds konnte ich bis hinunter auf den Boden der Schlucht sehen, der etwa einhundertachtzig Meter unter mir lag. Wie überall wuchsen auch dort unten Büsche und Gestrüpp.
    Ich ging um die Mesa herum. Im Süden und Norden befanden sich eine Reihe kleinerer Berge. Man hatte den Eindruck, daß sie Teil eines viele Millionen

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