Das Wirken der Unendlichkeit
ich an dieser Stelle wie in einem niedrigen Tunnel durch das undurchdringliche Gestrüpp kriechen konnte. Nach ein paar Metern wurde aus dem Tunnel ein Pfad, auf dem ich aufrecht gehen konnte. Senor Acosta kam zurück und sagte: »Bravo, Kleiner. Du hast es geschafft. Ja, wenn du willst, kannst du mitkommen.«
So begann meine Freundschaft mit Senor Leandro Acosta. Wir machten Tag für Tag Jagdausflüge. Unsere Freundschaft ließ sich nicht verheimlichen, denn ich verließ das Haus bei Sonnenaufgang und kam erst bei Sonnenuntergang zurück. Niemand wusste, wo ich war, bis mich mein Großvater schließlich streng ermahnte. »Du musst dir deine Freunde sorgfältig aussuchen«, sagte er. »Sonst wirst du so wie sie. Ich werde nicht dulden, daß dieser Mann irgendwelchen Einfluß auf dich hat. Sein Wesen kann auf dich abfärben. Er kann dich so weit bringen, daß seine nutzlosen Gedanken zu deinen Gedanken werden. Ich verspreche dir, wenn du diese Freundschaft nicht beendest, dann werde ich es für dich tun. Ich werde ihm die Polizei auf den Hals hetzen, weil er ein Hühnerdieb ist. Du weißt ganz genau, daß er mir jeden Tag Hühner klaut.«
Ich versuchte, meinen Großvater davon zu überzeugen, daß seine Vorwürfe absurd seien. Senor Acosta hatte es nicht nötig, Hühner zu stehlen. Der ganze Urwald stand ihm als Jagdrevier zur Verfügung. Aber meine Argumente erzürnten meinen Großvater noch mehr. Ich erkannte, daß mein Großvater insgeheim Senor Acosta um seine Freiheit beneidete. Dadurch verwandelte sich Senor Acosta für mich von einem freundlichen Jäger zum Inbegriff des Verbotenen, nach dem man sich gleichzeitig sehnt.
Ich wollte Senor Acosta nicht mehr so oft treffen, aber die Versuchung war einfach zu groß. Eines Tages schlugen Senor Acosta und drei seiner Freunde mir etwas vor, das Senor Acosta noch nie gelungen war. Ich sollte einen Geier lebend fangen. Er erklärte mir, die riesigen Geier in dieser Gegend, die eine Flügelspanne von bis zu einem Meter achtzig erreichten, hätten sieben verschiedene Arten Fleisch. Jede der sieben Fleischarten habe eine unterschiedliche Heilwirkung. Er sagte, es sei jedoch notwendig, den Geier unverletzt zu fangen. Der Geier müsse durch Beruhigungsmittel und nicht durch Gewalt getötet werden. Es sei einfach, einen Geier zu schießen, aber damit verliere das Fleisch seine Heilkraft. Das Kunststück bestehe darin, einen Geier lebend zu fangen. Das sei ihm noch nie gelungen. Aber mit meiner Hilfe und der Hilfe seiner drei Freunde habe er sich eine Methode ausgedacht, die zum Erfolg führen würde. Er versicherte mir, nachdem er das Verhalten von Geiern unzählige Male beobachtet habe, sei er mühelos zu der Lösung des Problems gekommen.
»Wir brauchen einen toten Esel«, erklärte er begeistert von seinem Plan. »Den haben wir.« Er sah mich abwartend an, damit ich fragen konnte, was mit dem toten Esel geschehen sollte. Da ich die Frage nicht stellte, fuhr er fort. »Wir entfernen die Innereien und sorgen mit Stöcken dafür, daß die Bauchrundung erhalten bleibt.«
»Das Leittier der Truthahngeier ist der König. Er ist der größte und intelligenteste«, erklärte er. »Kein Geier hat bessere Augen als er. Deshalb ist er der König. Er wird den toten Esel entdecken und als erster auf dem Kadaver landen. Er wird mit dem Wind anfliegen, um zu riechen, ob der Esel wirklich tot ist. Wir werden die Innereien und die Eingeweide, die wir aus dem Bauch holen, an das hintere Ende des Esels legen. Das sieht aus, als hätten sich Raubkatzen bereits ihren Teil geholt. Dann wird sich der Geier langsam dem Kadaver nähern. Er wird sich Zeit lassen. Er wird hüpfend fliegen, schließlich auf der Hüfte des toten Esels landen und dann den Kadaver hin und her schaukeln. Der Geier würde ihn umdrehen, wenn die vier Stöcke, die als Teil des Gestells in dem Esel in der Erde stecken, das nicht verhindern würden. Er sitzt also eine Weile auf der Hüfte. Das wird die anderen Geier anlocken, die in der Nähe landen. Erst wenn drei oder vier seiner Gefährten bei ihm sind, wird der König der Geier ans Werk gehen.«
»Und welche Rolle soll ich dabei spielen, Senor Acosta?« fragte ich.
»Du versteckst dich im Innern des Esels«, antwortete er mit unbewegter Miene. »Da ist nichts dabei. Du bekommst von mir speziell dafür angefertigte Lederhandschuhe. Du sitzt da und wartest ab, bis der König der Geier mit seinem großen starken Schnabel dem toten Esel den After aufreißt, den Kopf in
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