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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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gelesen. Meine Großmutter stellte ihn mir vor. Sie sagte, er sei ihr Sohn Antoine, ihr Baby, ihr Augenstern. Er sei Theaterschriftsteller, Regisseur, Autor und Dichter. Er beeindruckte mich jedoch als Sportler. Ich verstand zunächst nicht, daß er ein Adoptivsohn war. Doch mir fiel auf, daß er keineswegs aussah wie der Rest der Familie. Während alle anderen als wandelnde Leichen ihr Dasein fristeten, steckte er voller Leben und einer überströmenden Kraft. Wir mochten uns auf Anhieb. Ich fand es toll, daß er jeden Tag mit einem Sandsack trainierte. Mir gefiel vor allem, daß er den Sandsack nicht nur mit den Fäusten bearbeitete, sondern auch mit den Füßen trat. Er beherrschte eine erstaunliche Mischung aus Boxen und Treten. Er hatte einen steinharten Körper. Eines Tages gestand mir Antoine, sein größter Wunsch im Leben sei es, ein berühmter Schriftsteller zu werden.
    »Ich habe alles«, sagte er. »Das Leben ist sehr großzügig zu mir gewesen. Das einzige, was mir fehlt, ist das einzige, was ich haben möchte, nämlich Talent. Die Musen lieben mich nicht. Ich habe für alles, was ich lese, das richtige Gespür, aber ich kann nichts schreiben, was ich gerne lesen würde. Darunter leide ich sehr. Mir fehlt die Disziplin oder der Charme, die Musen zu betören. Deshalb ist mein Leben so leer... so schrecklich leer.« Antoine erzählte mir außerdem, das einzig Wirkliche oder das einzige in seinem Leben, das Wirklichkeit für ihn besitze, sei seine Mutter. Er bezeichnete meine Großmutter als sein Bollwerk, seine Stütze, seine Zwillingsseele. Zum Abschluß sagte er etwas sehr Beunruhigendes. »Ohne meine Mutter«, sagte er, »wäre ich nicht am Leben.« Da wurde mir klar, wie sehr er an meine Großmutter gebunden war. Die vielen Schauergeschichten meiner Tanten über den verwöhnten Antoine konnte ich plötzlich viel besser verstehen. Meine Großmutter hatte ihn wirklich hoffnungslos verwöhnt. Doch die beiden schienen miteinander sehr glücklich zu sein. Stundenlang saßen sie zusammen. Er legte wie ein Kind den Kopf in ihren Schoß. Ich hatte noch nie erlebt, daß meine Großmutter sich so lange mit jemandem unterhielt. Eines Tages begann Antoine plötzlich, viel zu schreiben. Er übernahm die Regie für ein Stück an unserem Stadttheater. Das Stück stammte von ihm. Die Aufführung wurde auf Anhieb ein Erfolg. Die Lokalzeitung veröffentlichte seine Gedichte. Er schien plötzlich auf eine kreative Ader gestoßen zu sein. Aber schon wenige Monate später war alles vorbei. Der Herausgeber der Zeitung stellte Antoine öffentlich bloß. Er warf ihm vor, ein Plagiator zu sein, und druckte in derselben Ausgabe den Beweis für Antoines literarischen Diebstahl. Meine
    Großmutter wollte natürlich von dem Vergehen ihres Sohnes nichts wissen. Sie sagte, das sei nichts als Neid. Alle Leute in der Stadt beneideten ihren Sohn wegen seiner Eleganz, seines Stils. Sie beneideten ihn um seine Persönlichkeit und um seinen Geist. Da hatte sie recht. Er verkörperte Eleganz und Weltoffenheit. Aber ohne Zweifel war er ein Plagiator. Daran gab es nichts zu rütteln.
    Antoine gab niemandem eine Erklärung für sein Verhalten. Ich mochte ihn zu sehr, um ihm eine solche Frage zu stellen. Außerdem war es mir gleichgültig. Meiner Meinung nach hatte er seine Gründe. Und das genügte. Aber etwas war zerbrochen. Wir lebten sozusagen ständig auf dem Sprung. Im Haus gab es von einem Tag zum nächsten so drastische Veränderungen, daß ich mich daran gewöhnte, auf alles gefaßt zu sein - auf das Schlimmste und das Schönste. Eines Abends erschien meine Großmutter in Antoines Zimmer. Es war ein sehr dramatischer Auftritt. In ihren Augen lag eine Härte, die ich noch nie bei ihr gesehen hatte. Ihre Lippen zitterten beim Sprechen.
    »Es ist etwas Schreckliches geschehen, Antoine«, verkündete sie.Antoine unterbrach sie und bat darum, ihr alles erklären zu können.
    Sie unterbrach ihn. »Nein, Antoine, nein!« sagte sie energisch. »Das hat nichts mit dir zu tun. Es geht um mich. In dieser für dich sehr schwierigen Zeit ist etwas geschehen, was für mich von noch größerer Bedeutung ist. Antoine, mein lieber Sohn, meine Zeit ist abgelaufen! Du sollst wissen, es ist nicht zu ändern«, fuhr sie fort. »Ich muss gehen, aber du musst bleiben. Du bist die Summe all dessen, was ich im Leben getan habe, im Guten und im Schlechten, Antoine. Du bist alles, was ich bin. Gib nicht auf. Am Ende werden wir ohnehin wieder Zusammensein.

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