Das Wirken der Unendlichkeit
wirst du mich hassen. Es würde deine Männlichkeit verletzen. Also gib dir beim nächsten Mal mehr Mühe.«
Sein übertrieben steifes Verhalten führte dazu, daß wir ihn alle >Senor Velez< nannten. Aber wir verkürzten das >Senor< zu >Sho<, wie es in der Region Südamerikas, aus der ich stamme, gesprochen wird. Eines Tages stellte mir Sho
Velez eine sehr ungewöhnliche Frage. Wie üblich begann er mit einer Herausforderung. »Ich gehe jede Wette ein«, sagte er, »daß ich etwas weiß, zu dem du nicht genug Mut hast.«
»Wovon redest du, Sho Velez?«
»Du würdest es nicht wagen, auf einem Floß einen Fluß hinunter zu fahren.« »Aber ja doch! Das habe ich sogar schon bei Hochwasser gemacht. Ich bin auf einer Insel gestrandet, wo ich ganze acht Tage bleiben musste. Man hat mir das Essen in Körben geschickt.«
Das war nicht gelogen. Ich hatte noch einen guten Freund. Er hatte den Spitznamen Der verrückte Hirte. Wir trieben eines Tages bei Hochwasser auf eine Insel. Keiner konnte uns retten. Die Leute glaubten, die Flut werde auch die Insel überschwemmen, und wir würden ertrinken. Sie füllten Körbe mit etwas zu essen und hofften, die Strömung würde die Körbe auf die Insel zutreiben. Das geschah auch. Auf diese Weise versorgten sie uns, bis das Wasser so weit gesunken war, daß sie uns mit einem Floß retten konnten.
»Nein, ich meine etwas anderes«, sagte Sho Velez in seiner lehrerhaften Art. »Es geht darum, auf einem Floß einen unterirdischen Fluß zu befahren.« Er erinnerte mich daran, daß ein großer Abschnitt eines nahen Flusses durch einen Berg verlief. Dieser unterirdische Teil des Flusses hatte mich schon immer fasziniert. Der Fluß verschwand in einer geheimnisvollen großen Höhle im Berg, in der Fledermäuse hausten und wo es nach Ammoniak roch. Den Kindern wurde immer erzählt, die Höhle sei der Eingang zur Hölle, wo es nur Schwefel, Hitze und Gestank gab. »Darauf kannst du deinen dummen Kopf wetten, Sho Velez, daß ich mich nie im Leben auf diesen Fluß wagen werde!« rief ich. »Nicht in diesem und nicht in zehn weiteren Leben! Man muss wirklich verrückt sein, um so etwas zu wollen.«
Das ernste Gesicht von Sho Velez wurde noch ernster. »Oh«, sagte er. »Dann muss ich es eben ganz allein tun. Ich dachte, ich könnte dich vielleicht überreden, mich zu begleiten. Ich habe mich geirrt. Mein Fehler.« »He, Sho Velez, was ist mit dir los? Warum zum Teufel willst du in dieses Höllenloch?«
»Ich muss es tun«, erwiderte er mit ernster Stimme. »Mein Vater ist so verrückt wie du. Abgesehen davon ist er natürlich ein Vater und der Mann meiner Mutter. Er muss sich um sechs Menschen kümmern. Wäre das nicht so, wäre er so verrückt wie ein Ziegenbock. Meine beiden Schwestern, meine beiden Brüder, meine Mutter und ich, wir brauchen ihn. Er ist alles, was wir haben.« Ich kannte den Vater von Sho Velez nicht. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Ich wusste nicht, welchen Beruf er hatte. Sho Velez erzählte, sein Vater sei ein Geschäftsmann, und sie würden sozusagen von der Hand in den Mund leben.
»Mein Vater hat ein Floß gebaut und will diese Expedition wagen. Meine Mutter meint, er macht nur große Worte, aber ich traue ihm nicht«, fuhr Sho Velez fort. »Ich habe deinen verrückten Blick in seinen Augen gesehen. Eines Tages fährt er bestimmt los, und ich weiß, er wird sterben. Also nehme ich sein Floß und mache die Fahrt selbst. Ich weiß, ich werde dabei umkommen, aber mein Vater wird am Leben bleiben.« Ich fühlte im Nacken so etwas wie einen elektrischen Schlag, und dann hörte ich mich in größter Erregung sagen: »Ich werde es tun, Sho Velez. Ja, ch werde es tun. Aber ja, es ist phantastisch! Ich werde dich begleiten.« Sho Velez verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Ich sah darin den Ausdruck seiner Freude darüber, daß ich ihn nicht im Stich lassen würde, und nicht seiner Zufriedenheit, weil er mich zu dem Abenteuer verlockt hatte. Seine nächsten Worte bestätigten mir das. »Ich weiß, wenn du bei mir bist, dann werde ich überleben.« Mir war es egal, ob Sho Velez am Leben bleiben würde oder nicht. Mich faszinierte sein Mut. Ich wusste, Sho Velez war mutig genug, um zu tun, was er sich vornahm. Er und der verrückte Schäfer waren die einzigen mutigen Jungen in der ganzen Stadt. Sie besaßen beide, was ich für einzigartig und unvorstellbar hielt, nämlich Mut. Niemand sonst in der Stadt hatte Mut. Ich hatte sie alle auf die Probe gestellt. In meinen Augen
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