Das Wirken der Unendlichkeit
waren alle tot, auch mein Großvater, den ich über alles liebte. Als Zehnjähriger wusste ich das ohne jeden Zweifel. Daß Sho Velez so wagemutig war, warf mich einfach um. Ich wollte unter allen Umständen bis zum bitteren Ende bei ihm sein. Wir verabredeten, uns bei Tagesanbruch zu treffen, und trugen zusammen das leichte Floß seines Vaters etwa acht Kilometer aus der Stadt bis zu den niedrigen grünen Bergen und der Höhle, wo der Fluß in der Erde verschwand. Dort stank es unerträglich nach dem Kot der Fledermäuse. Wir kletterten auf das Floß und stießen uns vom Ufer ab. Das Floß war mit Taschenlampen ausgerüstet, die wir sofort anknipsen mussten. Im Innern des Berges herrschte pechschwarze Dunkelheit, und es war feuchtheiß. Das Wasser war tief genug für das Floß, und es flöß so schnell, daß wir nicht paddeln mussten. Im Schein der Taschenlampen erschienen bizarre Schatten. Sho Velez flüsterte mir ins Ohr, es sei vermutlich besser, sich überhaupt nicht umzusehen, denn alles hier war mehr als erschreckend und schauerlich. Er hatte recht. Es war bedrückend und Übelkeit erregend. Das Licht machte die Fledermäuse munter, die ziellos um uns herumflatterten. Als wir tiefer in die Höhle vordrangen, gab es nicht einmal mehr Fledermäuse, sondern nur noch stickige, abgestandene Luft, die man kaum atmen konnte. Nach einer, wie mir schien, stundenlangen Fahrt erreichten wir eine Art See. Dort war das Wasser sehr tief und bewegte sich kaum. Der Fluß schien irgendwo gestaut zu sein.
»Wir sitzen fest«, flüsterte mir Sho Velez wieder ins Ohr. »Das Floß kommt hier nicht durch, und wir können nicht zurück.« Die Strömung war so stark, daß wir nicht einmal den Versuch unternehmen konnten zurückzufahren. Wir beschlossen, einen anderen Ausweg zu suchen. Da fiel mir plötzlich auf, daß wir mit den Händen die Decke der Höhle berühren konnten, wenn wir uns aufrecht auf das Floß stellten. Das bedeutete, das Wasser staute sich fast bis zur Decke der Höhle. Am Eingang war die Höhle so hoch wie in einer Kirche gewesen, etwa fünfzehn Meter hoch. Das konnte nur bedeuten, der See war ungefähr fünfzehn Meter tief.
Wir verzurrten das Floß an einem Felsen und tauchten in die Tiefe, um eine Strömung oder eine Bewegung im Wasser zu suchen. An der Oberfläche war es heiß und feucht, aber schon etwas tiefer wurde das Wasser sehr kalt. Mein Körper registrierte die veränderte Temperatur, und ich bekam es mit der Angst zu tun. Es war eine seltsame animalische Angst, die ich noch nicht kannte. Ich tauchte wieder auf. Sho Velez musste das gleiche erlebt haben. Wir stießen an der Wasseroberfläche zusammen.
»Ich glaube, wir sind dem Tod nahe«, erklärte er ernst. Ich teilte weder seine feierliche Stimmung, noch hatte ich den Wunsch zu sterben. Ich suchte verzweifelt nach einer Öffnung. Bei Überschwemmungen musste das Wasser Steine in den Berg geschwemmt und so einen Damm aufgerichtet haben. Schließlich entdeckte ich ein Loch im Gestein, das für meinen zehnjährigen Körper groß genug war. Ich tauchte noch einmal mit Sho Velez nach unten und zeigte ihm das Loch. Es war zu klein für das Floß. Wir nahmen unsere Kleider vom Floß und schnürten sie zu einem kleinen Bündel. Dann tauchten wir wieder, suchten das Loch und schwammen hindurch. Wir gerieten in eine Wasserrutsche, wie man sie in Vergnügungsparks findet. Algen und Moos wuchsen auf den Steinen, und so konnten wir lange in die Tiefe gleiten, ohne uns zu verletzen. Dann befanden wir uns in einer riesigen domähnlichen Höhle, wo uns das Wasser bis zur Hüfte reichte. Wir entdeckten am Ende der Höhle den blauen Himmel und wateten ins Freie. Das Wasser war zum Schwimmen nicht tief genug, und es flöß nicht so schnell, daß wir uns hätten treiben lassen können. Wortlos breiteten wir unsere Sachen in der Sonne zum Trocknen aus. Dann gingen wir in die Stadt zurück. Sho Velez war beinahe untröstlich, weil wir das Floß seines Vaters hatten zurücklassen müssen.
»Mein Vater wäre dort gestorben«, sagte er schließlich. »Er wäre zu groß für das Loch gewesen. Mein Vater ist groß und dick. Aber er wäre stark genug gewesen, um zum Höhleneingang zurückzulaufen.« Das bezweifelte ich. Das Wasser flöß infolge der Neigung an manchen Stellen erstaunlich schnell. Ich räumte ein, daß ein großer Mann in seiner Verzweiflung vielleicht mit der Hilfe von Seilen und unter großen Anstrengungen den Rückweg geschafft hätte. Wie auch immer, es
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