Das Wirken der Unendlichkeit
erfüllte mich mit einer seltsamen Trauer, die bis zum heutigen Tag anhält. Es ist eine höchst unverständliche Melancholie. Don Juan erklärte mir, mir sei damals zum ersten Mal bewusst geworden, daß wir keine Zeit haben.
Am nächsten Tag fuhr meine Großmutter mit ihrem Ratgeber, Diener und Chauffeur zu einem geheimnisvollen Ort mit dem Namen Rondonia. Ihr Zauberer-Beschützer wollte sie dort heilen. Meine Großmutter war todkrank. Aber das wusste ich nicht. Sie kehrte nie zurück. Don Juan erklärte, der Verkauf ihres Besitzes und das Übergeben des Erbes an Antoine sei das einzigartige Manöver des Zauberers gewesen, um sie von der Fürsorge ihrer Familie zu befreien. Ihre Kinder waren alle so wütend auf die Mutter, daß es ihnen gleichgültig war, ob sie zurückkam oder nicht. Ich hatte den Eindruck, sie bemerkten nicht einmal ihren Weggang.
Auf dem Bergplateau erinnerte ich mich an diese drei Erlebnisse, als hätten sie sich gerade eben erst ereignet. Als ich mich bei den drei Menschen bedankte, gelang es mir, sie auf den Berg zu bringen. Als ich meine Danksagung beendet hatte, war meine Einsamkeit unaussprechlich. Ich weinte hemmungslos.
Don Juan erklärte mir sehr geduldig, Einsamkeit sei für einen Krieger unstatthaft. Er sagte, Krieger-Wanderer könnten sich auf ein Wesen verlassen, auf das sie alle ihre Liebe, alle ihre Gefühle konzentrieren können, und zwar auf diese wunderbare Erde, die Mutter, der Nährboden, der Mittelpunkt all dessen, was wir sind, und all dessen, was wir tun. Die Erde ist das Wesen, zu dem wir alle zurückkehren. Sie ist das
Wesen, das dem Krieger-Wanderer erlaubt, sich auf die letzte Reise zu begeben.
Don Genaro vollbrachte dann mir zuliebe die Magie des Wollens. Er lag auf dem Bauch und vollführte eine Reihe faszinierender Bewegungen. Er wurde ein leuchtender Tropfen, der wie am Grund eines Sees zu schwimmen schien. Don Juan erklärte, das sei Genaros Art, die unermeßliche Erde zu umarmen. Und trotz des ungleichen Größenverhältnisses erwidere die Erde Genaros Geste. Beim Anblick von Genaros Bewegungen und Don Juans Erklärung verflog meine Einsamkeit, und ich empfand größte Freude.
»Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß du gehst, Don Juan«, hörte ich mich sagen. Der Klang meiner Stimme und meine Worte machten mich verlegen. Als ich unfreiwillig und vom Selbstmitleid getrieben zu schluchzen begann, war mir das noch unangenehmer. »Was ist nur mit mir los, Don Juan?« murmelte ich. »Normalerweise bin ich nicht so.« »Dein Bewusstsein ist wieder auf die Höhe deiner Zehen gesunken«, erwiderte er lachend.
Ich verlor jeden Rest an Selbstbeherrschung und überließ mich ganz meinen Gefühlen der Verzweiflung und Niedergeschlagenheit. »Ich werde hier allein gelassen!« rief ich mit schriller Stimme. »Was soll mit mir geschehen? Was soll aus mir werden?«
»Drücken wir es so aus«, erwiderte Don Juan ruhig. »Damit ich diese Welt verlassen und mich dem Unbekannten stellen kann, brauche ich meine ganze Kraft, meine ganze Geduld und mein ganzes Glück. Aber vor allem brauche ich den ganzen stählernen Mut eines Krieger-Wanderers. Um zurückzubleiben und wie ein KriegerWanderer zu leben, brauchst du dasselbe wie ich. Der Weg dorthin, wo wir hingehen, ist alles andere als leicht, aber hier bleiben ist ebenso schwer.« In meinem Gefühlsüberschwang küßte ich ihm die Hand.
»Du meine Güte!« rief er. »Als nächstes wirst du für meine Guaraches einen Schrein errichten!« Meine Qual verwandelte sich von Selbstmitleid in das Gefühl eines unvorstellbaren Verlusts. »Du gehst!« murmelte ich. »Mein Gott! Du gehst für immer!« In diesem Augenblick machte Don Juan etwas mit mir, was er seit dem ersten Tag, als ich ihm begegnete, immer ‘ wieder getan hatte. Er blähte die Backen, als hole er tief Luft. Dann gab er mir mit der linken Hand einen kräftigen Schlag auf den Rücken und sagte: »Komm zu dir! Sei nicht so niedergeschlagen!«
Im nächsten Augenblick war ich wieder vernünftig, hatte meine Selbstkontrolle zurück und war wieder völlig ich selbst. Ich wusste, was von mir erwartet wurde. Für mich gab es kein Zögern mehr oder irgendwelche Sorgen um mich. Ich machte mir keine Gedanken darüber, was mit mir geschehen würde, wenn Don Juan nicht mehr da war. Ich wusste, sein Abschied stand bevor. Er sah mich an, und in diesem Blick seiner Augen war alles ausgesprochen.
»Wir werden nie wieder Zusammensein«, sagte er leise. »Du brauchst meine Hilfe
Weitere Kostenlose Bücher