Das Wirken der Unendlichkeit
Inzwischen tu etwas, Antoine. Tu etwas! Es kommt nicht darauf an, was, solange du nur etwas tust.« Ich sah, wie Antoine vor Qual erbebte. Ich bemerkte, wie sich sein ganzes Wesen anspannte, alle seine Muskeln, seine ganze Kraft. Es war, als habe er umgeschaltet - von seinem Problem, das einem Fluß glich, zum Meer. »Versprich mir, daß du nicht vor deinem Tod stirbst!« rief meine Großmutter. Antoine nickte.
Am nächsten Tag verkaufte meine Großmutter auf den Rat ihres Zauberer-Ratgebers ihren gesamten, sehr beachtlichen Besitz und übergab das Geld ihrem Sohn Antoine. Dann kam es zu der eigenartigsten Szene, die ich in meinem zehnjährigen Leben gesehen hatte - der Augenblick, als Antoine von seiner Mutter Abschied nahm. Diese Szene war so unwirklich wie in einem Film. Sie war in dem Sinn unwirklich, daß sie erdacht und irgendwo niedergeschrieben zu sein schien, entstanden aus einer Reihe von Änderungen, die ein Schriftsteller macht und die der Regisseur szenisch umsetzt. Ort der Handlung war der Patio im Haus meiner Großeltern. Antoine war der Hauptdarsteller, seine Mutter die Heldin. Antoine reiste an diesem Tag ab. Er fuhr zum Hafen. Er würde den Atlantik auf einem italienischen Kreuzfahrtschiff überqueren. Er war noch eleganter gekleidet als sonst. Vor dem Haus wartete ein Taxi, und der Fahrer drückte ungeduldig auf die Hupe. Ich war Zeuge von Antoines letzter Nacht gewesen, in der er fieberhaft versucht hatte, ein Gedicht für seine Mutter zu schreiben.
»Es taugt nichts«, sagte er zu mir. »Alles, was ich schreibe, taugt nichts. Ich bin ein Niemand.« Ich versicherte ihm, obwohl ich der Falsche war, um ihm das zu versichern, daß alles, was er schrieb, großartig sei. In einem bestimmten Augenblick ließ ich mich zu einer Dummheit hinreißen und übertrat eine Grenze, die ich unbedingt hätte respektieren müssen. »Sieh mich an, Antoine!« rief ich. »Ich bin noch weniger als du! Du hast eine Mutter. Ich habe nichts. Alles, was du schreibst, ist gut.«
Sehr höflich forderte er mich auf, sein Zimmer zu verlassen. Es war mir gelungen, ihm das Gefühl zu geben, ein Dummkopf zu sein, der sich von einem Kind einen Rat geben ließ. Ich bedauerte meinen Ausbruch sehr. Ich hätte mich so gefreut, sein Freund zu bleiben. Antoine hatte seinen eleganten Mantel sorgfältig gefaltet über die rechte Schulter gelegt. Er trug einen wunderschönen grünen englischen KaschmirAnzug. Meine Großmutter begann den Dialog. »Du musst dich beeilen«, sagte sie. »Zeit ist alles. Du musst gehen. Wenn du bleibst, werden dich diese Leute hier wegen des Gelds umbringen.«
Sie dachte dabei an ihre Töchter und deren Ehemänner. Ihr Zorn war unbeschreiblich, nachdem sie herausgefunden hatten, daß ihre Mutter sie stillschweigend enterbt hatte und daß der verrückte Antoine, ihr Erzfeind, alles bekommen hatte, was rechtmäßig ihnen gehörte. »Es tut mir leid, daß ich dir das alles zumuten muss«, sagte meine Großmutter entschuldigend. »Aber wie du weißt, läßt sich die Zeit nicht von unseren Wünschen beeinflussen.«
Antoine sprach mit seiner ernsten schön klingenden Stimme. Er klang mehr denn je wie ein Bühnenschauspieler. »Ich brauche nicht viel Zeit, Mutter«, sagte er. »Aber ich möchte dir etwas vorlesen, das ich für dich geschrieben habe.«
Es war sein Dank-Gedicht. Nachdem er es vorgetragen hatte, machte er eine Pause. Die Luft erbebte unter der Fülle der Gefühle.
»Das war die reine Schönheit, Antoine«, seufzte meine Großmutter. »Es hat alles zum Ausdruck gebracht, was du sagen wolltest, und alles, was ich hören wollte.« Sie schwieg einen Augenblick. Dann lächelte sie ihn bezaubernd an.
»Hast du es abgeschrieben, Antoine?« fragte sie. Antoine lächelte ebenso strahlend. »Natürlich, Mutter«, erwiderte er. »Natürlich.«
Sie umarmten sich weinend. Das Taxi hupte immer ungeduldiger. Antoine entdeckte mich unter der Treppe, wo ich mich versteckt hatte. Er nickte mir zu, als wollte er sagen: »Adieu! Laß es dir gutgehen.« Dann drehte er sich um und ging zum Tor, ohne seine Mutter noch einmal anzusehen. Er war sechsunddreißig, aber er schien eine so unendlich schwere Last auf den Schultern zu tragen, daß er wie ein Sechzigjähriger wirkte. Am Tor blieb er stehen, weil er seine Mutter hörte, die ihn ein letztes Mal ermahnte.
»Dreh dich nicht um, Antoine!« rief sie. »Dreh dich niemals um. Sei glücklich und tu etwas! Du musst etwas tun! Darauf kommt es an. Tu es!«
Diese Szene
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