Das Wirken der Unendlichkeit
ließ sich nicht mit Sicherheit sagen, ob der Vater von Sho Velez auf dem unterirdischen Fluß ums Leben gekommen wäre oder nicht. Aber darauf kam es mir nicht an. Das Wichtige an diesem Erlebnis war für mich, daß ich zum ersten Mal Neid empfunden hatte. Sho Velez war der einzige, den ich in meinem Leben beneidet habe. Es gab jemanden, für den er bereit gewesen wäre zu sterben, und er hatte mir bewiesen, daß er dazu bereit war. Ich hatte niemanden, für den ich sterben wollte, und ich hatte mir nichts bewiesen. Auf symbolische Weise überließ ich Sho Velez den ganzen Triumph des Abenteuers. Sein Sieg war vollkommen. Ich verneigte mich vor ihm. Es war seine Stadt, und dort lebten seine Leute. Und er war meiner Meinung nach der Größte von allen. Als wir uns an jenem Tag trennten, konnte ich eine gewisse Banalität nicht vermeiden, aber ich sprach eine echte Wahrheit aus, als ich sagte: »Sei hier König, Sho Velez. Du bist der Größte.«
Ich habe danach nie wieder mit ihm gesprochen, sondern bewusst die Freundschaft beendet. Ich fühlte, ich könne nur mit dieser Geste bekunden, wie tief er mich beeindruckt hatte.
Don Juan glaubte, ich schulde Sho Velez auf ewig Dank, weil er der einzige war, von dem ich lernte, daß wir etwas haben müssen, für das wir bereit wären zu sterben, bevor wir daran denken können, wir hätten etwas, für das wir leben.
»Wenn du nichts hast, wofür du bereit bist zu sterben«, sagte Don Juan einmal zu mir, »wie kannst du dann behaupten, du hättest etwas, wofür du lebst? Beides gehört zusammen, und der Tod sitzt am Steuer.« Die dritte Person, der ich über mein Leben hinaus Dank schuldete, wie Don Juan sagte, war meine Großmutter mütterlicherseits. In meiner blinden Verehrung für meinen Großvater, den Mann, hatte ich die wahre Quelle der Kraft in dieser Familie vergessen - meine sehr exzentrische Großmutter.
Viele Jahre, bevor ich in ihre Familie kam, hatte sie einen Indianer der Gegend vor dem Lynchtod gerettet. Man warf ihm vor, ein Zauberer zu sein. Ein paar wütende junge Männer wollten ihn auf dem Gelände meines Großvaters an einem Baum erhängen. Sie kam dazu und verhinderte es. Die Männer waren offenbar alle ihre Patenkinder und wagten nicht, sich ihr zu widersetzen. Sie holte den Mann vom Baum, nahm ihn mit nach Hause und heilte seine Wunden. Das Seil hatte sich tief in seinen Hals eingeschnitten.
Die Wunden heilten, aber er blieb bei meiner Großmutter. Er erklärte, sein Leben habe an dem Tag geendet, als man ihn hängte. Das neue Leben, so sagte er, gehöre ihm nicht. Er war ein Mann, der sein Wort hielt, und er diente meiner Großmutter sein ganzes Leben lang. Er war ihr Diener, Haushofmeister und Ratgeber. Meine Tanten behaupteten, er habe meiner Großmutter geraten, ein neugeborenes verwaistes Kind als ihren Sohn zu adoptieren. Das beklagten sie auf das bitterste.
Als ich in das Haus meiner Großeltern kam, war der Adoptivsohn meiner Großmutter bereits Ende Dreißig. Sie hatte ihn in Frankreich studieren lassen. Eines Nachmittags stieg plötzlich vor dem Haus ein sehr elegant gekleideter athletischer Mann aus einem Taxi. Der Fahrer trug seinen Lederkoffer in den Patio. Der Mann gab ihm ein großzügiges Trinkgeld. Mir fiel sofort auf, daß der kräftige Mann sehr gut aussah. Er hatte lange lockige Haare und lange, gebogene Wimpern. Er sah sehr gut aus, ohne ein Schönling zu sein. Das Beste an ihm war jedoch sein strahlendes offenes Lächeln, mit dem er mich sofort ansah.
»Darf ich fragen, wer du bist, junger Mann?« sagte er mit der schönsten ausgebildeten Stimme, die ich je gehört hatte.
Es nahm mich sofort für ihn ein, daß er mich als >junger Mann< angeredet hatte. »Ich heiße Carlos Aranha, Senor«, erwiderte ich. »Darf ich meinerseits um Ihren Namen bitten?«
Er spielte den Überraschten, riß die Augen weit auf und wich zurück, als sei er angegriffen worden. Dann begann er, lauthals zu lachen. Sein Gelächter rief meine Großmutter aus dem Haus. Als sie den sportlichen Mann sah, stieß sie einen Schrei aus wie ein kleines Mädchen und umarmte ihn stürmisch. Er hob sie hoch, als sei sie federleicht, und wirbelte sie im Kreis herum. Mir fiel auf, wie groß er war. Seine Stärke entsprach seiner Größe. Er hatte in der Tat den Körper eines professionellen Kämpfers. Er schien zu bemerken, daß ich ihn musterte, und zeigte mir seine Armmuskeln.
»Ich habe früher mal geboxt, junger Mann«, sagte er, als hätte er meine Gedanken
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