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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Selbstbeobachtung, um auf die Härten psychologischer Misshandlung reagieren zu können, nachdem sie mir vor Augen geführt worden war. Ich versicherte meinem Onkel, daß ich darüber nachdenken werde, aber nicht im Augenblick, denn meine Freundin, die im Wohnzimmer auf mich wartete, gab mir gerade nachdrücklich durch Gesten zu verstehen, ich möge mich beeilen.
    Ich hatte keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, aber mein Onkel musste mit meinem Vater gesprochen haben, denn ich bekam ein Geschenk von ihm. Es war hübsch eingepackt und mit einem Band verschnürt, und auf einer kleinen Karte stand: >Tut mir leid!< Neugierig und gespannt packte ich das Geschenk aus. In einer Pappschachtel lag ein hübsches Spielzeug, ein winziges Dampfschiff zum Aufziehen mit einem Schlüssel, der am Schornstein hing. Das Dampfschiff war für kleine Kinder gedacht, die damit in der Badewanne spielen konnten. Mein Vater hatte völlig vergessen, daß ich bereits fünfzehn und erwachsen war.
    Da ich erwachsen geworden war, ohne zu gründlicher Selbstbeobachtung fähig zu sein, war es für mich etwas völlig Neues, als ich eines Tages eine seltsame emotionale Erregung in mir registrierte, die mit der Zeit zu wachsen schien. Ich achtete nicht weiter darauf und schrieb sie den natürlichen Vorgängen des Bewusstseins oder des Körpers zu, die sich regelmäßig und ohne jeden Grund bemerkbar machen oder möglicherweise von biochemischen Prozessen im Körper ausgelöst werden. Ich machte mir keine Gedanken darüber. Die Erregung nahm jedoch zu, und der Druck zwang mich zu der Annahme, daß ich in meinem Leben eine drastische Veränderung brauche. Etwas in mir verlangte kategorisch eine Umgestaltung meines Lebens. Der Drang, alles zu ändern, war mir vertraut. Ich hatte ihn in der Vergangenheit schon öfter erlebt, aber seit langer Zeit war davon nichts mehr zu spüren gewesen.
    Ich hatte mich entschlossen, Anthropologie zu studieren. Mein Entschluß war so stark, daß die angestrebte drastische Veränderung nie so weit ging, nicht Anthropologie zu studieren. Es kam mir nicht in den Sinn, die Universität zu verlassen und etwas anderes anzufangen. Als erstes dachte ich, ich brauche einen Wechsel der Universität, und es sei das beste, in einer anderen Stadt, weit weg von Los Angeles zu studieren.
    Bevor ich einen Schritt von solcher Tragweite unternahm, wollte ich gewissermaßen das Gelände sondieren. Ich belegte einen ganzen Sommer lang Vorlesungen an der Universität einer anderen Stadt. Aus meiner Sicht hielt dort ein Professor, der als die größte Autorität in Hinblick auf die Indianer der Anden galt, die wichtigste Vorlesung, denn ich hatte die Vorstellung, wenn ich mein Studium auf ein Gebiet konzentrieren würde, das mir gefühlsmäßig zugänglich war, hätte ich eine bessere Möglichkeit zu ernsthafter anthropologischer Feldarbeit, wenn die Zeit dazu gekommen sei. Ich war der Ansicht, mein Wissen über Südamerika würde mir zu jeder der dortigen Indianergesellschaften einen besseren Zugang verschaffen.
    Als ich mich für die Vorlesungen einschrieb, bekam ich gleichzeitig einen Job als Forschungsassistent bei einem Psychiater, dem älteren Bruder eines meiner Freunde. Er wollte eine Inhaltsanalyse von Auszügen der Mitschnitte einiger harmloser Frage- und Antwort-Sitzungen mit jungen Männern und Frauen erstellen. Es ging dabei um ihre Probleme als Folge von Überlastung in der Schule, unerfüllten Erwartungen, fehlendem Verständnis der Familie, enttäuschenden Liebesbeziehungen etc. Die Bänder waren über fünf Jahre alt und sollten gelöscht werden. Bevor das geschah, wurden den Bändern Nummern zugeordnet. Der Psychiater und seine Assistenten wählten dann mittels einer Zufallstabelle Bänder aus und überprüften sie nach Auszügen, die analysiert werden konnten.
    In der ersten Vorlesung an der neuen Universität sprach der Anthropologieprofessor über sein akademisches Credo und beeindruckte die Studenten mit dem Umfang seines Wissens und seiner Veröffentlichungen. Es war ein großer schlanker Mann Mitte Vierzig mit ruhelosen blauen Augen. An seinem Äußeren beeindruckten mich am meisten seine Augen, die durch sehr dicke Brillengläser, die seine Weitsichtigkeit ausgleichen sollten, übergroß wirkten. Wenn er beim Sprechen den Kopf bewegte, hatte man den Eindruck, daß sich jedes Auge in eine andere Richtung drehte. Ich wusste, das konnte nicht sein, doch es war eine sehr irritierende optische Täuschung. Für einen

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