Das Wirken der Unendlichkeit
gekehrt, andererseits extrem offen und witzig. Die genaueste Beschreibung eines Nagual, die er an dem Tag, an dem ich ihn gefunden hatte, formulierte, war seine Aussage, ein Nagual sei leer, und diese Leere sei kein Spiegel der Welt, sondern der Unendlichkeit.
In Hinblick auf Don Juan Matus hätte nichts mehr zutreffen können. Seine Leere war in der Tat ein Spiegel der Unendlichkeit. An ihm war nichts Übertriebenes und nichts Anmaßendes. Nichts an ihm \erriet das Bedürfnis, sich zu beklagen oder etwas zu bereuen. Er besaß die Leere eines Krieger-Wanderers, der genug Erfahrung hat, nichts als selbstverständlich zu betrachten. Er war ein Krieger-Wanderer, der nichts über- oder unterschätzt, ein stiller, disziplinierter Kämpfer von so vollkommener Schönheit, daß niemand, wie sehr er sich auch bemüht, die Nahtstelle finden wird, an der die Vielschichtigkeit seines Wesens zusammenläuft.
Das Ende einer Zeit
Die großen Sorgen des Alltags
Ich fuhr nach Sonora, um Don Juan zu besuchen. Ich musste mit ihm über ein sehr ernstes Ereignis in meinem Leben damals sprechen. Ich brauchte seinen Rat. Bei meiner Ankunft nahm ich mir kaum die Zeit zu einer Begrüßung. Ich setzte mich, und mein innerer Tumult brach aus mir heraus.
»Beruhige dich, beruhige dich«, sagte Don Juan. »So schlimm kann es nicht sein!« »Was ist mit mir los, Don Juan?« fragte ich. Das war natürlich eine rhetorische Frage.
»Die Unendlichkeit ist am Zug«, erwiderte er. »An dem Tag, an dem du mir begegnet bist, ist etwas mit deiner Art der Wahrnehmung geschehen. Deine Nervosität beruht auf der unterschwelligen Erkenntnis, daß deine Zeit abgelaufen ist. Es ist dir bewusst, aber es ist dir nicht vorsätzlich bewusst. Du spürst das Fehlen von Zeit, und das macht dich ungeduldig. Ich kenne das, denn ich habe es selbst erlebt und alle Zauberer meiner Tradition auch. Plötzlich war eine ganze Ära in meinem Leben oder in ihrem Leben zu Ende. Jetzt bist du an der Reihe. Du hast einfach keine Zeit mehr.«
Er wollte von mir einen ausführlichen Bericht über das, was mir widerfahren war. Er sagte, es müsse ein vollständiger Bericht mit allen Einzelheiten sein. Er wollte keine ungefähre Beschreibung. Ich sollte rückhaltlos aussprechen, was mich bekümmerte. »Dieses Gespräch soll, wie es in deiner Welt heißt, nach allen Regeln der Kunst geführt werden«, sagte er. »Begeben wir uns also auf die Ebene methodischer Gespräche.«
Don Juan erklärte, daß die Schamanen im alten Mexiko die Idee von methodischen Gesprächen im Unterschied zu freien Gesprächen entwickelt hatten. Sie benutzten beide Gesprächsformen als Mittel, um ihre Schüler zu unterrichten und ihnen in ihrer Entwicklung zu helfen. Methodische Gespräche waren für sie Zusammenfassungen, die sie von Zeit zu Zeit von allem machten, was sie die Schüler gelehrt oder ihnen gesagt hatten. Freie Gespräche waren die täglichen Erläuterungen, bei denen kein Bezug auf etwas anderes als das fragliche Thema selbst genommen wurde.
»Die Zauberer behalten nichts für sich«, fuhr er fort. »Es gehört zum Vorgehen eines Zauberers, sich auf diese Weise zu entleeren. Es führt sie dazu, die Festung des Ich aufzugeben.«
Ich begann meine Geschichte und erzählte Don Juan, daß die Umstände meines Lebens mir nie eine Selbstbeobachtung erlaubt hätten. Soweit ich mich erinnern kann, war mein Alltag randvoll mit pragmatischen Problemen, die eine sofortige Lösung verlangten. Ich erinnere mich, daß mein Lieblingsonkel mir eines Tages sagte, er habe entsetzt herausgefunden, daß ich noch nie zu Weihnachten oder zum Geburtstag ein Geschenk erhalten hatte. Als er das zu mir sagte, lebte ich noch nicht lange im Haus der Familie meines Vaters. Der Onkel bedauerte mich wegen der unfairen Behandlung. Er entschuldigte sich sogar, obwohl er nichts damit zu tun hatte. »Es ist wirklich eine Schande, mein Junge«, sagte er bebend vor Empörung. »Du sollst wissen, daß ich hundertprozentig hinter dir stehe, wenn der Augenblick kommt, Unrecht wieder gutzumachen.«
Er beschwor mich immer wieder, denen zu verzeihen, die mich ungerecht behandelt hatten. Seinen Worten entnahm ich, daß ich meinen Vater zur Rede stellen und ihm Vernachlässigung und Gleichgültigkeit vorwerfen sollte, um ihm dann natürlich zu verzeihen. Dieser Onkel vermochte nicht einzusehen, daß ich mich keineswegs ungerecht behandelt fühlte. Was er von mir wollte, erforderte eine entsprechende Form der
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