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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Anthropologen war er außergewöhnlich gut gekleidet, denn in meiner Studentenzeit standen die Anthropologen im Ruf, sich mit übergroßer Lässigkeit zu kleiden. Die Studenten sagten zum Beispiel, Archäologen seien völlig in ihre Radiocarbon-Methode vergraben und würden niemals ein Bad nehmen. Aber erstaunlicherweise unterschied er sich nicht durch seine Erscheinung oder seine Gelehrsamkeit von anderen Professoren, sondern durch seine Sprechgewohnheiten. Er sprach jedes einzelne Wort so deutlich aus, wie ich es noch nie gehört hatte, und er betonte bestimmte Worte, indem er sie dehnte. Unverkennbar hatte er einen ausländischen Akzent, aber ich wusste, der war eine Marotte. Bestimmte Sätze klangen bei ihm wie bei einem Engländer, andere wie bei einem Erweckungsprediger. Trotz seines theatralischen Auftretens faszinierte er mich von Anfang an. Sein Eigendünkel war so offenkundig, daß er nach den ersten fünf Minuten der Vorlesung unwesentlich wurde. Diese fünf Minuten waren jedoch eine einzige bombastische Zurschaustellung von Wissen, verpackt in maßlosen Äußerungen über sich selbst. Wie auch immer, er fesselte seine Zuhörer. Alle Studenten, mit denen ich sprach, hatten nur die größte Bewunderung für diesen außerordentlichen Mann. Ich glaubte allen Ernstes, daß mein Wechsel zu einer anderen Universität in einer anderen Stadt reibungslos und ohne Zwischenfälle, aber durch und durch positiv verlaufen würde. Mir gefiel die neue Umgebung. Das Abhören der Bänder in meiner neuen Stelle faszinierte mich so sehr, daß ich mich in das Büro schlich, um mir nicht nur Auszüge, sondern das ganze Band anzuhören. Anfangs beeindruckte mich über alle Maßen, daß ich mich dort selbst sprechen hörte. Nachdem ich mich im Laufe der Wochen mit mehreren Bändern beschäftigt hatte, verwandelte sich meine Faszination in reines Entsetzen. Jeder Satz, auch die Fragen des Psychiaters, hatten mit mir zu tun. Die Leute sprachen aus den Tiefen meines Wesens. Der Abscheu, den ich plötzlich empfand, war neu für mich. Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß ich mich in jedem Mann, in jeder Frau auf den Bändern endlos wiederholen konnte. Das Gefühl meiner Individualität, das seit meiner Geburt tief in mir verwurzelt war, brach unter der Wucht dieser unglaublichen Entdeckung hoffnungslos zusammen. Damals begann ich den mühsamen Prozeß, mich selbst wiederaufzubauen. Unbewusst unternahm ich einen absolut lächerlichen Versuch einer Selbstbeobachtung. Ich versuchte, meinem Dilemma zu entrinnen, indem ich unablässig Selbstgespräche führte. Ich formulierte in Gedanken alle möglichen Argumente, die mein Gefühl der Einzigartigkeit untermauern konnten. Dann sprach ich sie laut aus und hörte sie mir an. Ich erlebte sogar etwas für mich sehr Revolutionäres. Ich weckte mich oft selbst dadurch auf, daß ich im Schlaf laut meinen Wert und meine Besonderheit darlegte.
    An einem schrecklichen Tag erhielt ich den nächsten schweren Schlag. Mitten in der Nacht wurde ich durch hartnäckiges Klopfen an meiner Tür geweckt. Es war kein vorsichtiges oder behutsames Klopfen, sondern das, was meine Freunde >Gestapo-Klopfen< nannten. Jemand schien die Tür aus den Angeln heben zu wollen. Ich sprang aus dem Bett und blickte durch den Spion. Vor der Tür stand mein Chef, der Psychiater. Daß sein jüngerer Bruder mein Freund war, schien bei ihm von Anfang an eine gewisse Offenheit mir gegenüber hergestellt zu haben. Er hatte sich ohne Zögern mit mir angefreundet. Nun stand er vor meiner Tür. Ich machte Licht und öffnete.
    »Komm herein«, sagte ich. »Was ist los?« Es war drei Uhr morgens. Das bleiche Gesicht und die tiefliegenden Augen verrieten, daß er völlig aus dem Gleichgewicht war. Er trat ein und setzte sich. Die langen schwarzen Haare, sein Stolz und seine Zierde, fielen ihm ins Gesicht. Er machte sich nicht die Mühe, sie wie üblich glatt nach hinten zu kämmen. Ich mochte ihn sehr, denn er war eine ältere Version meines Freundes in Los Angeles. Er hatte dichte schwarze Augenbrauen, durchdringende braune Augen, ein kräftiges Kinn und volle Lippen. Die Oberlippe schien an der Innenseite eine zweite Falte zu haben. Wenn er auf eine bestimmte Weise lächelte, hatte man den Eindruck, er habe eine doppelte Oberlippe. Er sprach immer über die Form seiner Nase, die er als eine aufdringliche und aggressive Nase bezeichnete. Ich fand, er war äußerst selbstsicher und sehr überheblich. Er behauptete jedoch, das sei in

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