Das Wirken der Unendlichkeit
Wesen. Der Nagual Elias war eher still und versank in der Dunkelheit seines Schweigens. Der Nagual Julian war ein wortgewaltiger, zwanghafter Redner. Man hatte den Eindruck, er sei dazu da, Frauen den Kopf zu verdrehen. Es gab in seinem Leben mehr Frauen, als man sich vorstellen kann. Und doch glichen sich die beiden auf erstaunliche Weise darin, daß es in ihrem Innern nichts gab. Sie waren leer. Der Nagual Elias war eine Sammlung faszinierender, unvergesslicher Geschichten über unbekannte Bereiche. Der Nagual Julian war eine Sammlung von Geschichten, bei der sich alle vor Lachen auf dem Boden wälzten. Wenn ich versuchte, den Menschen in ihnen, den wahren Menschen, zu finden, so wie ich den Menschen in meinem Vater, in jedem, den ich kannte, entdecken konnte, fand ich nichts. Anstelle einer wahren Persönlichkeit gab es nur eine Reihe von Geschichten über unbekannte Personen. Jeder der beiden hatte seine eigene Ausstrahlung, aber im Endergebnis kam es auf dasselbe hinaus - Leere. Diese Leere war nicht ein Spiegel der Welt, sondern der Unendlichkeit.«
Don Juan erläuterte mir dann, sobald man eine bestimmte Schwelle der Unendlichkeit entweder bewusst oder wie in meinem Fall unbewusst überschreitet, gehört alles, was einem danach widerfährt, nicht länger ausschließlich der eigenen Sphäre an. Man gelangt in das Reich der Unendlichkeit. »Als wir uns in Arizona begegneten, haben wir beide eine bestimmte Schwelle überschritten«, fuhr er fort. »Über diese Schwelle hatte nicht einer von uns beiden entschieden, sondern die Unendlichkeit. Alles, was uns umgibt, ist Unendlichkeit.« Bei diesen Worten breitete er die Arme aus. »Die Zauberer meiner Tradition sprechen von Unendlichkeit, von Geist, von dem dunklen Meer des Bewusstseins und sagen, daß es etwas ist, das sich dort draußen befindet und über unser Leben herrscht.« Ich war tatsächlich in der Lage, alles zu verstehen, was er sagte, andererseits hatte ich jedoch keinen blassen Schimmer, wovon er sprach. Ich wollte wissen, ob das Überschreiten der Schwelle Zufall gewesen sei, ausgelöst von den unvorhersehbaren Umständen, die dem Zufall unterliegen. Er antwortete, seine und meine Schritte seien von der Unendlichkeit gelenkt worden. Die scheinbar vom Zufall bestimmten Umstände seien in Wahrheit vom Wirken der Unendlichkeit bestimmt worden. Er nannte es das Wollen.
»Uns hat das Wollen der Unendlichkeit zusammengeführt«, sagte er. »Es ist unmöglich zu bestimmen, was dieses Wollen der Unendlichkeit ist. Doch es ist vorhanden, und zwar ebenso offensichtlich wie du und ich. Die Zauberer sagen, es ist ein Beben in der Luft. Der Vorteil der Zauberer besteht darin, daß sie wissen, es gibt das Beben in der Luft, und daß sie sich ihm ohne weitere Umstände fügen. Für Zauberer gibt es kein Überlegen, Fragen oder Spekulieren. Sie wissen, alles, was ihnen bleibt, ist die Möglichkeit, sich mit dem Wollen der Unendlichkeit zu vereinen. Und genau das tun sie.« Nichts hätte für mich einleuchtender sein können als diese Aussagen. Aus meiner Sicht war die Wahrheit seiner Worte so offensichtlich, daß es sich von selbst verbot, darüber nachzudenken, wie es möglich war, daß solche absurden Behauptungen so vernünftig klingen konnten. Ich wusste, was Don Juan sagte, war nicht nur eine Binsenwahrheit, sondern ich konnte es in Hinblick auf mich selbst sogar bestätigen. Alles, worüber er redete, gehörte bereits zu meinem Wissen. Ich hatte das Gefühl, jede Einzelheit seiner Beschreibung selbst durchlebt zu haben. Unser Gespräch endete an diesem Punkt. Etwas in mir schien in sich zusammenzufallen. In diesem Augenblick kam mir der Gedanke, daß ich dabei war, den Verstand zu verlieren. Die eigenartigen Aussagen hatten mich geblendet, und ich hatte absolut jeden Sinn für Objektivität verloren. Daraufhin verließ ich in großer Eile das Haus von Don Juan. Ein unsichtbarer Feind bedrohte mich bis ins Innerste. Don Juan begleitete mich zu meinem Wagen. Er wusste, was in mir vorging. »Mach dir keine Gedanken«, sagte er und legte mir die Hand auf die Schulter. »Du wirst nicht verrückt. Du spürst nur einen sanften Schlag der Unendlichkeit.« Mit der Zeit bestätigte sich für mich, was Don Juan über seine beiden Lehrer gesagt hatte. Don Juan Matus war ganz genau so, wie er die beiden Männer beschrieben hatte. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, daß er eine außergewöhnliche Mischung von beiden war - einerseits äußerst ruhig und in sich
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