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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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aller Kraft an den Mauerrand. Die Gewißheit, daß ich auf keinen Fall meine Selbstkontrolle verlieren durfte, wenn ich verhindern wollte, daß sich das Gerüst weiter und weiter von der Wand weg bewegte, gab mir die Kraft der Verzweiflung. Ich würde meinen Griff nicht lockern und dreizehn Stockwerke tief stürzen und sterben. Luigi, bis zum bitteren Ende ein großer Redner, rief mir unter Tränen zu, ich solle beten. Er schwor, wir würden beide hinunterfallen, und das Mindeste, was wir vor unserem Tod tun könnten, sei, für die Rettung unserer Seelen zu beten. Ich überlegte einen Augenblick, ob Beten zweckmäßig sei, aber ich entschied mich dafür, um Hilfe zu rufen. Die Leute im Gebäude mussten schließlich mein Geschrei gehört und die Feuerwehr gerufen haben. Ich hatte wirklich den Eindruck, es habe nur zwei oder drei Sekunden gedauert, bis die Feuerwehrmänner aufs Dach kamen, mich und Luigi packten und das Gerüst sicherten, nachdem ich angefangen hatte, um Hilfe zu rufen.
    In Wirklichkeit hing ich mindestens zwanzig Minuten an der Wand. Als mich die Feuerwehrleute schließlich auf das Dach zogen, hatte ich den letzten Rest meiner Kontrolle verloren. Ich musste mich übergeben. Vor Angst und von dem ekelhaften Geruch des weichen Teers drehte sich mir der Magen um. Es war ein sehr heißer Tag. Der Teer über den Rissen der rauben Dachpappbahnen schmolz in der Hitze. Das Erlebnis war so schrecklich und peinlich, daß ich mich nicht daran erinnern wollte. Deshalb bildete ich mir schließlich ein, die Feuerwehrmänner hätten mich in ein warmes gelbes Zimmer gezogen. Dann hätten sie mich in ein überaus bequemes Bett gelegt, und ich sei, der Todesgefahr entronnen, in meinem Pyjama friedlich eingeschlafen. Meine zweite Erinnerung löste ebenfalls einen Sturm von unvorstellbarer Gewalt in mir aus. Ich unterhielt mich ruhig mit ein paar Freunden, als ich aus einem unerfindlichen Grund unter dem Ansturm eines Gedankens, einer Erinnerung, die einen Augenblick undeutlich blieb und dann zu einem Erlebnis wurde, das mich völlig in Anspruch nahm, plötzlich keine Luft mehr bekam. Die Erinnerung hatte eine solche Wucht, daß ich mich entschuldigen und in eine Ecke zurückziehen musste. Meine Freunde schienen mein Verhalten zu verstehen und verabschiedeten sich stumm. Ich erinnerte mich an einen Vorfall aus meinem letzten Jahr an der Highschool.
    Mein bester Freund und ich gingen zu Fuß zur Schule und kamen dabei an einem großen herrschaftlichen Haus mit einem schwarzen schmiedeeisernen Zaun vorbei, der mindestens zwei Meter hoch war und oben lange Spitzen hatte. Hinter dem Zaun sah man einen großen gepflegten grünen Rasen. Ein großer, bissiger deutscher Schäferhund bewachte das Gelände. Wir ärgerten den Hund jeden Tag und warteten darauf, daß er zum Zaun gerannt kam. Dort blieb er stehen, doch seine Wut schien durch die schmiedeeisernen Stäbe hindurch zu uns zu dringen. Meinem Freund machte es großen Spaß, den Hund Tag für Tag in einen Kampf zwischen Geist und Materie zu verwickeln. Er näherte sich bis auf wenige Zentimeter der Hundeschnauze, die der Schäferhund durch die Eisenstäbe streckte, und fletschte wie der Hund die Zähne.
    »Hör auf! Hör auf mit dem Bellen und Knurren!« rief mein Freund jedesmal. »Sei still! Sei still! Ich bin stärker als du!«
    Seine tägliche Zurschaustellung mentaler Kraft zeigte niemals Wirkung, wenn man davon absah, daß der Hund immer wütender wurde. Zu dem täglichen Ritual gehörte, daß mir mein Freund versicherte, der Hund werde ihm entweder gehorchen oder als Folge seiner Wut eines Tages vor unseren Augen an einem Herzschlag verenden. Seine Überzeugung war so stark, daß ich wirklich glaubte, der Hund werde irgendwann tot umfallen. Als wir eines Morgens an den Zaun kamen, war der Hund nicht da. Wir warteten einen Augenblick, doch er kam nicht. Dann entdeckten wir ihn am anderen Ende des großen Rasens. Dort schien er sich mit etwas zu beschäftigen. Deshalb gingen wir langsam weiter. Aus dem Augenwinkel sah ich plötzlich, daß der Hund auf uns zu raste. Als er noch etwa zwei Meter vom Zaun entfernt war, setzte er zu einem gewaltigen Sprung über den Zaun an. Ich war sicher, er würde sich an den eisernen Spitzen den Bauch aufreißen. Er schaffte es, gerade darüber hinwegzukommen, und landete wie ein Sack Kartoffeln auf der Straße.
    Im ersten Augenblick glaubte ich, er sei tot. Doch er war nur benommen. Plötzlich kam er auf die Beine, aber anstatt

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