Das Wirken der Unendlichkeit
Pflicht, mir die Augen zu öffnen. Ich hatte zwei gleichaltrige Vettern, Alfrede und Luis. Mein Großvater verlangte rundheraus, ich sollte zugeben, daß mein Vetter Alfredo wirklich schön sei. In der Erinnerung hörte ich die rauhe, gepreßte Stimme meines Großvaters. »Alfredo braucht keine Empfehlungen«, hatte er damals gesagt. »Er muss nur anwesend sein, und schon öffnen sich ihm alle Türen, denn alle Leute sind Anhänger des Schönheitskults. Jeder mag schöne Menschen. Man beneidet sie, und man sucht ihre Gesellschaft. Das kannst du mir glauben. Ich sehe gut aus - findest du nicht auch?«
Ich stimmte meinem Großvater aufrichtig zu. Er war zweifellos ein sehr gutaussehender Mann, feingliedrig, mit lachenden blauen Augen, schön geschnittenen Gesichtszügen und fein gemeißelten Wangen. Alles in seinem Gesicht schien ausgewogen - die Nase, der Mund, die Augen, der markante Unterkiefer. In seinen Ohren wuchsen blonde Haare. Dadurch wirkte er wie ein Elf. Er war sich all seiner Vorzüge bewusst und setzte diese Eigenschaften auch ein. Die Frauen beteten ihn an, erstens, wie er sagte, wegen seiner Schönheit und zweitens, weil er für sie keine Gefahr darstellte. Er nutzte das natürlich alles zu seinem Vorteil aus. »Dein Vetter Alfredo ist ein typischer Sieger«, fuhr mein Großvater fort. »Er wird nie in eine Party hineinplatzen, denn er wird der erste auf der Gästeliste sein. Hast du jemals bemerkt, wie die Leute auf der Straße stehen bleiben und ihn ansehen und wie sie ihn anfassen wollen? Er ist so schön, daß ich fürchte, er wird ein Arschloch werden, aber das ist eine andere Sache. Sagen wir, er wird das beliebteste Arschloch sein, das du kennst.« Mein Großvater verglich meinen Vetter Luis mit Alfredo. Er sagte, Luis sei reizlos, ein bißchen naiv, aber er habe ein Herz aus Gold. Dann kam ich an die Reihe. »Wenn wir unseren Gedankengang weiterführen wollen«, fuhr er fort, »musst du ehrlich zugeben, daß Alfredo schön und daß Luis gut ist. Jetzt kommen wir zu dir. Du bist weder hübsch noch gut. Du bist ein wahrer Hurensohn. Dich wird niemand zu einer Party einladen. Du wirst dich daran gewöhnen müssen, daß du, wenn du auf einer Party sein willst, uneingeladen auftauchen musst. Die Türen werden sich dir nie öffnen, wie sie sich für Alfredo wegen seiner Schönheit öffnen und für Luis, weil er gut ist. Also wirst du durch das Fenster klettern müssen.«
Die Analyse seiner drei Enkel war so zutreffend, daß mich die Endgültigkeit seiner Worte zum Weinen brachte. Je mehr ich weinte, desto fröhlicher wurde er. Er schloß die Angelegenheit mit einer überaus gefährlichen Ermahnung ab.
»Du musst dir deshalb nicht leid tun«, sagte er, »denn nichts ist aufregender, als durch das Fenster zu klettern. Dazu musst du gewitzt und auf Draht sein. Du musst alles genau beobachten und ständig auf Demütigungen gefaßt sein. Wenn du durch das Fenster klettern musst«, fuhr er fort, »liegt es daran, daß du mit Sicherheit nicht auf der Gästeliste stehst. Also ist deine Anwesenheit nicht erwünscht, und du musst dir etwas einfallen lassen, um bleiben zu können. Der einzige Weg, den ich kenne, um das zu erreichen, ist, alle zu beherrschen. Halt nie den Mund! Stell Forderungen! Gib Ratschläge! Gib ihnen das Gefühl, daß du bestimmst! Wie können sie dich hinauswerfen, wenn du das Sagen hast?«
Die Erinnerung an diese Szene löste einen heftigen Sturm in mir aus. Ich hatte den Vorfall so tief in mir begraben, daß ich ihn völlig vergessen hatte. In ständiger Erinnerung geblieben war mir nur seine Ermahnung, das Kommando zu übernehmen. Im Laufe der Jahre musste er mir diesen Rat immer und immer wieder gegeben haben. Ich hatte keine Möglichkeit, das Ereignis zu untersuchen oder darüber nachzudenken, denn eine andere vergessene Erinnerung drängte sich mit gleicher Macht in mein Bewusstsein. Ich war wieder mit dem Mädchen zusammen, mit dem ich verlobt gewesen war. Wir sparten damals beide, um zu heiraten und uns eine eigene Wohnung leisten zu können. Ich hörte, wie ich verlangte, wir sollten ein gemeinsames Bankkonto einrichten. Etwas anderes kam für mich nicht in Frage. Ich hatte ständig den Drang, ihr Vorträge über Sparsamkeit zu halten. Ich hörte, wie ich ihr sagte, wo sie ihre Kleider kaufen sollte, und wie viel sie höchstens dafür ausgeben durfte. Dann sah ich, wie ich ihrer jüngeren Schwester Fahrunterricht gab. Ich geriet in blinde Wut, als sie erklärte, sie werde zu
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