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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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sei, weil die Stärke des anderen Teils es ihm verwehrt, sich zu äußern. Was immer Don Juan gesagt hatte, war für mich eine metaphorische Art gewesen, vielleicht die scheinbare Dominanz der linken Gehirnhälfte über die rechte oder etwas in der Art zu erklären. »Die Rekapitulation erschließt eine geheime Alternative«, sagte Don Juan, »so wie es eine geheime Alternative zum Sterben gibt, die nur Zauberer nutzen. Im Falle des Sterbens besteht die Alternative darin, daß die Menschen ihre Lebenskraft behalten und nur ihr Bewusstsein, das Produkt ihres Lebens aufgeben. Im Falle der Rekapitulation besteht die geheime Alternative, die nur Zauberer genutzt haben, darin, das wahre Bewusstsein zu steigern. Die eindringliche Qualität deiner Erinnerungen«, fuhr er fort, »konnte nur von deinem wahren Bewusstsein kommen. Ich würde sagen, das andere Bewusstsein, das wir alle haben und teilen, ist ein Billigmodell, eine Sparversion in einer einzigen Größe, die für alle paßt. Für dich geht es jetzt um das Auftauchen einer auflösenden Kraft. Es ist keine Kraft, die dich auflöst -, so meine ich das nicht. Sie löst das auf, was die Zauberer den Fremdkörper nennen, den es in dir und in jedem anderen Menschen gibt. Die Kraft, die über dich kommt und den Fremdkörper auflöst, hat die Wirkung, die Zauberer aus ihrer Sprache herauszureißen.«
    Ich hatte Don Juan aufmerksam zugehört, doch ich konnte nicht behaupten, verstanden zu haben, was er sagte. Doch aus einem seltsamen Grund, der mir ebenso unbekannt war wie die Ursache für meine lebendigen Erinnerungen, konnte ich ihm jedoch keine Fragen stellen.
    »Ich weiß, wie schwierig es für dich ist«, sagte Don Juan unvermittelt, »mit dieser Facette deines Lebens zurechtzukommen. Jeder Zauberer, den ich kenne, hat das durchgemacht. Die Männer nehmen dabei sehr viel größeren Schaden als die Frauen. Ich nehme an, die Frauen sind von Natur aus härter im Nehmen. Die Zauberer im alten Mexiko haben als eine geschlossene Gruppe ihr Bestes versucht, die Wirkung der auflösenden Kraft aufzufangen. Heutzutage haben wir keine Möglichkeit, als Gruppe zu handeln. Deshalb müssen wir uns der Kraft allein stellen. Wir müssen uns darauf gefaßt machen, uns einsam und allein einer Kraft zu stellen, die uns von der Sprache fortreißt, denn es gibt keine Möglichkeit, adäquat zu beschreiben, was geschieht.« Don Juan hatte recht, denn auch ich war nicht in der Lage, die Wirkung dieser Erinnerungen auf mich zu erklären oder zu beschreiben. Don Juan hatte mir gesagt, daß Zauberer in den gewöhnlichsten Ereignissen, die man sich vorstellen kann, dem Unbekannten gegenüberstehen. Wenn sie damit konfrontiert sind und nicht interpretieren können, was sie wahrnehmen, müssen sie sich auf eine äußere Quelle verlassen, die ihnen Richtlinien gibt. Don Juan hatte diese Quelle Unendlichkeit genannt oder die Stimme des Geistes. Er hatte gesagt, wenn Zauberer nicht versuchen, rational an etwas heranzugehen, was sich rational nicht erklären lasse, sage ihnen der Geist unfehlbar alles, was sie darüber wissen müssen. Don Juan hatte mich gelehrt, die Vorstellung zu akzeptieren, daß die Unendlichkeit eine Kraft ist, die eine Stimme hat und die sich ihrer selbst bewusst ist. Folglich hatte er mich darauf vorbereitet, auf diese Stimme zu hören und stets effizient zu handeln, allerdings ohne mich dabei auf frühere Umstände zu beziehen und mich dabei sowenig wie möglich am Geländer des a priori festzuhalten. Ich wartete ungeduldig darauf, daß mir die Stimme des Geistes die Bedeutung meiner Erinnerungen verraten würde, doch nichts geschah.
    Eines Tages war ich in einer Buchhandlung, als ein Mädchen mich erkannte und zu mir herüber kam. Sie war groß und schlank und hatte eine unsichere KleinmädchenStimme. Ich versuchte, ihr die Schüchternheit zu nehmen, als sich plötzlich eine energetische Veränderung vollzog. Es war, als sei in mir ein Alarmknopf gedrückt worden, und wie es bereits in der Vergangenheit geschehen war, erinnerte ich mich ohne Zutun meinerseits an ein anderes vergessenes Ereignis in meinem Leben. Mich überkam die Erinnerung an das Haus meiner Großeltern. Es war buchstäblich eine Lawine von so niederschmetternder Wucht, daß ich mich wieder einmal in eine Ecke verkriechen musste. Ich zitterte am ganzen Körper, als hätte ich mich erkältet. Ich muss acht Jahre alt gewesen sein. Mein Großvater redete mit mir. Er hatte damit begonnen, daß er sagte, er habe die

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