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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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viel größeres Schlafzimmer und die dritte in den Wohnraum mit Kochnische. Alles war einwandfrei aufgeräumt und sauber. Das Bett war gemacht und glatt gestrichen, die Armaturen und Oberflächen im Bad glänzten, als seien sie gerade erst poliert worden, und auch der Herd und die Möbel im Wohnzimmer wiesen keinerlei Spuren von Schmutz oder Staub auf. Entweder war Enrique ein Sauberkeitsfanatiker, oder er hatte eine gute Putzfrau.
    Astarte bemerkte wieder einmal, dass sie viel zu wenig über ihn wusste. Und jetzt stand sie in der Wohnung ihres Freundes, zu der sie sich heimlich Zugang verschafft hatte, um ihn zu bestehlen. Auch das war nicht ganz das richtige Wort. Stehlen konnte man einem anderen ja nur das, was ihm auch gehörte. Und Viktors Notizbuch gehörte Enrique nicht. Er hatte es nur zur sicheren Aufbewahrung überreicht bekommen. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, Verrat an Enrique zu begehen. Er vertraute ihr, das spürte sie, auch wenn er seine eigenen Geheimnisse hatte. Und sie zahlte ihm das auf diese Weise zurück!
    Astarte schüttelte den Kopf. Sie musste sich auf ihre Aufgabe hier konzentrieren, denn sie wusste nicht, wann Enrique zurückkehren würde. Systematisch begann sie, die Zimmer zu durchsuchen, in der Hoffnung, dass er das Notizbuch nicht bei sich trug. Dabei verließ sie das eigenartige Gefühl, das sie seit dem Betreten der Wohnung hatte, nicht, und auch ihr Herzschlag wollte sich nicht beruhigen. Sie stellte sich vor, was passieren würde, wenn Enrique unverhofft zurückkäme. Wie sollte sie ihm das, was sie hier tat, erklären?
    Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis sie das Versteck unter dem Sofa entdeckte. Vorsichtig löste sie die Klebestreifen und zog das Büchlein hervor. Trotz der drängenden Zeit konnte sie nicht widerstehen, einen Blick hineinzuwerfen. Die mehreren Hundert Seiten waren nahezu komplett in einer winzigen Handschrift gefüllt. Sie blätterte einmal von vorn nach hinten und stutzte bei einer der letzten Seiten, die etwas enthielt, was sie eher an Noten als an eine Sprache erinnerte:

    Sollten das etwa Worte sein? Und warum waren sie auf Notenlinien platziert? Sie blätterte um und fand weitere Abbildungen dieser Art. Darunter wurden die Silben aus dem Notensatz wiederholt, jeweils gefolgt von den arabisch anmutenden Zeichen.
    Astarte hatte jetzt nicht die Zeit, sich darum zu kümmern. Sie klappte das Notizbuch zu und verstaute es in ihrer Tasche. Nachdem sie kontrolliert hatte, ob sie auch keine Spuren hinterlassen hatte, verließ sie die Wohnung.
    Auf der Straße überlegte sie, was nun zu tun war. Eigentlich hatte sie Enrique zugesagt, sich mit ihm und Marek zu treffen, aber sie konnte ihm jetzt unmöglich unter die Augen treten. Sie schlug den Weg zu ihrer Wohnung ein, hielt jedoch auf halber Strecke inne und setzte sich in ein kleines Café. Bei einem Kaffee versuchte sie, ihren nächsten Schritt zu planen.
    Die einfachste Lösung war die Vernichtung des Notizbuchs. Damit erlosch vielleicht das Interesse der Sicherheitsdienste an Viktor. Auch der Mordaufruf aus der Kapsel war dann hinfällig, denn ohne eine schriftliche Überlieferung konnte Viktors Sprache die Zukunft nicht mehr beeinflussen. Allerdings erinnerte sie sich an seine entsetzte Reaktion, als sie diesen Vorschlag zum ersten Mal gemacht hatte. Durfte sie wirklich so einfach das Lebenswerk eines Menschen zerstören? Viktor war kein Heiliger, schließlich setzte er seine Patienten einem unerprobten Medikament aus. Aber gab ihr das das Recht, derartig in sein Leben einzugreifen?
    Sie konnte sich zu keiner Lösung durchringen. Selbst wollte sie das Notizbuch nicht behalten, denn als Viktors Assistentin stand sie sicher ganz hoch auf der Verdächtigenliste der Sicherheitsdienste. Aber es gab eine Person, die mit Viktor garantiert nicht in Verbindung gebracht wurde.
    Astarte machte sich auf den Weg zu Thura.

dizu:
Log des Protektors

    Die ersten Tage nach der Operation waren die schwersten meines Lebens. Fünfundzwanzig Jahre hatten mich die Stimmen begleitet, und jetzt war nur Stille zurückgeblieben.
    Der Eingriff selbst war kaum der Rede wert gewesen. Er dauerte nicht länger als eine halbe Stunde. Schon wenige Stunden später konnte ich wieder meinem normalen Dienst nachgehen.
    Wir bekamen täglich mehrere Stunden eine spezielle Unterweisung, die uns dabei helfen sollte, unser Leben ohne die Stimmen

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