Das Wörterbuch des Viktor Vau
sagte, er fühle sich ausgezeichnet. Als ich ihn auf seine Stimmungsschübe hinwies, tat er das als unwesentlich ab. Leider habe ich keine Handhabe, ihn einweisen zu lassen. Weitere Beobachtung erforderlich.«
Astarte schloss die Akte und versenkte sie wieder in der Schublade. Nachdenklich starrte sie in die Luft. Hatte Viktor Vau an dem Kellner ein noch ungeprüftes Medikament erprobt? Und was steckte hinter dem Mittel, das sie den Versuchspersonen verabreichen sollte? Er hatte ihr nicht viel mehr darüber erzählt, als dass er es entwickelt hatte. War es überhaupt auf Verträglichkeit geprüft worden, zum Beispiel im Tierversuch? Und falls nicht, warum duldete die Klinik ein solches Experiment?
Sie wusste wohl, dass Viktor aus den Kreisen der Dynastie stammte. Auch wenn er kein soziales Leben hatte, so verfügte er gewiss noch über eine Reihe von Kontakten. War das seine Rückendeckung? So, wie sie ihn bislang kennengelernt hatte, schien er ein integrer Mensch zu sein, der vielleicht eine merkwürdige Theorie verfolgte, aber niemandem schadete. Es war eine Sache, Patienten einen Text in einer erfundenen Sprache memorieren zu lassen; ihnen nicht geprüfte Medikamente zu verabreichen, war eine ganz andere.
Seufzend erhob sie sich. Die Ration für heute lag vor ihr auf dem Schreibtisch. Sollte sie den Versuch einfach abbrechen? Andererseits wusste sie noch zu wenig über die Wirkweise des Mittels, und ein abrupter Entzug konnte vielleicht mehr Schaden anrichten als die weitere Verabreichung.
Sie beschloss, Viktor so bald wie möglich zur Rede zu stellen. Bis dahin würde sie sich an seine Anweisungen halten. Zugleich nahm sie sich vor, die Patienten in Zukunft noch aufmerksamer zu beobachten, ob sich irgendwelche Nebenwirkungen feststellen lieÃen.
Sie nahm die Medikamente auf und verlieà den Raum.
4.
Patient 10 hockte vor seinem Zettel und sprach die Wörter leise vor sich hin. Astarte stand hinter ihm, in der Ecke des Raums, und beobachtete ihn aus sicherer Entfernung. Dies war der achte Test am heutigen Tag. Noch zwei weitere, und sie hatte endlich Feierabend.
Viktor Vau hatte ausdrücklich darauf bestanden, dass sie ihre Tätigkeit in der Klinik fortsetzte, als sei nichts geschehen. So war sie seiner Meinung nach am besten davor geschützt, einen Verdacht auf sich zu lenken. AuÃerdem mussten die Experimente fortgeführt werden. Wenn die Studie jetzt unterbrochen wurde, waren Monate harter Arbeit umsonst gewesen.
Patient 10 war ein kleiner Mann mit fliehendem Kinn und schütterem Haar. In seinem vorigen Leben war er einmal leitender Angestellter einer Bank gewesen, bevor die Krankheit zum Durchbruch gekommen war. Astarte wusste, dass sein wirklicher Name irgendwo in der Patientenakte vergraben war, aber nur die wenigsten Mitarbeiter hatten Zugang dazu. Auf Viktors Station saÃen die schwersten Fälle, die Hoffnungslosen, für die der Weg in die Klinik in den meisten Fällen eine EinbahnstraÃe war. Viktors Experimente basierten darauf, den Patienten so viel wie möglich von ihrer Individualität zu nehmen. Was zunächst erschreckend klang, war Teil einer ausgeklügelten Strategie, die letztendlich zur Heilung führen sollte.
Auch wenn die anderen Ãrzte Viktor selbst gewissermaÃen für einen Verrückten hielten, so waren sie nur zu gern bereit gewesen, ihm die Abteilung mit den Dauergästen zu überlassen. Er hatte seine geplanten Versuchsreihen dem Ethikkomitee der Klinik vorgestellt, und nach einiger Beratung hatte er schlieÃlich die Genehmigung für ihre Durchführung erhalten.
Für die Patienten selbst war die Umstellung unproblematisch gewesen. Solange eine Aussicht auf Heilung bestand, hatten sie sich zu allem bereit erklärt, und wenn es Viktors höchst ungewöhnliche Versuche waren. Astarte fragte sich, was wohl mit den Insassen geschehen würde, wenn Viktor nicht mehr zurückkehrte. Wahrscheinlich würden sie verlegt, anderswo eingeliefert und vergessen werden. Einige von ihnen würden sicherlich zugrunde gehen. Sie seufzte. Es war wirklich eine Schande, dass Vau kaum jemanden in seine Gedanken eingeweiht hatte. Auch sie wusste nur, was unbedingt notwendig war, um die Experimente weiterzuführen.
Patient 10 hatte aufgehört zu lesen und blickte sie erwartungsvoll an.
»Entschuldigung«, sagte Astarte. »Ich war gerade mit meinen Gedanken anderswo. Was haben Sie
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