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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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gesagt?«
    Â»Plak volar terma lera icopirma«, wiederholte er.
    Â»Sie wollen den Text nicht mehr weiterlesen? Aus welchem Grund?«
    Â»Es beginnt, mir im Kopf wehzutun.«
    Astarte blickte auf das Klemmbrett in ihrer Hand. »Wir müssen aber noch zehn Minuten weitermachen.«
    Patient 10 sah sie flehend an. »Bitte machen Sie eine Ausnahme.«
    Er tat Astarte leid. Aber das Experiment war in einer Phase angelangt, in der es Wirkung zu zeigen begann. Der Widerstand der Patienten war daher zu erwarten, wie Viktor erklärt hatte. »Es ist wie bei einer Psychoanalyse«, hatte er gesagt. »Anfangs läuft alles harmonisch ab, aber wenn man beginnt, tiefer zu graben, setzen bei den Patienten heftige Gegenreaktionen ein. Gehen Sie damit um, Astarte. Doch geben Sie nie nach.«
    Sie hatte diese Abwehr auch schon bei drei anderen Versuchspersonen bemerkt. Aber Patient 10 war der Erste, der einen Satz in Viktors Sprache ausgesprochen hatte. Sollte Viktors Theorie also wirklich zutreffen?
    Â»Lerates icopirta fin. Durat nocu dimins«, antwortete sie.
    Sein Blick zeigte ihr, dass er sie nicht verstand.
    Â»Sie müssen den Text zu Ende lesen. Es dauert nur noch zehn Minuten.«
    Mit einem Seufzen beugte er sich wieder über den Zettel und fuhr mit dem Lesen fort. Astarte vermerkte das Ereignis in dem Protokollformular auf ihrem Klemmbrett. Schade, dass Viktor Vau jetzt nicht da war. Der Vorfall würde ihn sicher interessieren. Nachdem sie auch die letzten beiden Probanden beaufsichtigt hatte (bei denen es zu keinen besonderen Ereignissen kam), ging Astarte in Viktors Büro zurück und übertrug die Protokollnotizen in das Versuchsbuch. Viktor wollte nicht, dass die Ergebnisse seiner Versuche in elektronischer Form festgehalten wurden. Er machte, wenn es erforderlich war, zwar Gebrauch von Computern, bestand aber darauf, sämtliche Beobachtungen und Protokolle auf die altmodische Art handschriftlich aufzuzeichnen. Astarte vermutete, er hatte Sorge davor, dass jemand sich Zugang zu seinen Daten verschaffen könnte, wenn sie in einem Rechner gespeichert waren. Die Versuchsprotokolle wurden in einem Wandsafe in seinem Zimmer aufbewahrt, zu dem nur er und nun auch sie die Schlüssel besaßen.
    Als sie fertig war, rief sie Enrique an, um zu erfahren, ob er für den Abend schon verplant war. Er hatte bereits eine Verabredung mit Marek und schlug ihr vor, doch einfach dazuzukommen.
    Astarte fuhr nach Hause und überlegte, was sie tun sollte. Die Gelegenheit war günstig und würde so schnell vielleicht nicht wiederkommen. Andererseits stellte das, was sie vorhatte, aber auch einen Schritt dar, der nicht mehr rückgängig zu machen war.
    In den wenigen Tagen, die sie Enrique kannte, hatte sie ein freundschaftliches Gefühl für ihn entwickelt. Ja, es schien ihr, als habe die Fluchthilfe für Viktor sie, Enrique, Marek und Thura mehr zusammengeschweißt, als es eine jahrelange Bekanntschaft hätte leisten können. Deshalb wog ihr Vorhaben umso schwerer. Sie setzte dabei mehr aufs Spiel als nur ihre Beziehung zu Enrique.
    Sie wusste, dass er mehr für sie empfand als sie für ihn. Es war nicht so, dass sie ihn unattraktiv fand, aber seit ihrer Ankunft in der Stadt hatte sie ihre Gefühle so gut wie möglich verdrängt. Abgesehen von ein paar Discobesuchen blieb ihr Kontakt mit dem männlichen Geschlecht auf das Berufliche beschränkt. Viktor Vau war der erste Mann, der wieder eine Regung in ihr ausgelöst hatte, die allerdings frei von jeglicher Begierde war. Er sprach etwas anderes in ihr an, etwas, das weitaus tiefer liegen musste. Enrique hingegen war für sie ein guter Freund, mit dem sie die Erfahrungen als Neuankömmling in der Stadt teilte und dessen Gesellschaft sie schätzte. Aber er ließ in ihr nichts anklingen, was darüber hinaus ging.
    Trotzdem stellte das, was sie plante, eine grobe Verletzung ihrer Freundschaft dar. Aber sie musste es einfach tun. Sie packte ihre Umhängetasche und machte sich auf den Weg.
    Eine halbe Stunde später stand sie mit klopfendem Herzen vor Enriques Wohnungstür. Das simple Sicherheitsschloss ließ sich mit dem Öffnungsautomaten, den sie am Vortag gekauft hatte, ohne Probleme öffnen. Behutsam drückte sie die Tür wieder hinter sich zu. Sie befand sich in einem schmalen Flur, von dem drei Türen abgingen. Die erste führte in ein kleines Bad, die zweite in ein nicht

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